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Wirtschaft und Management

DISKURSIV: Solidarisches Handeln: Müssen wir in der Corona-Krise nicht gerade kleineren Unternehmen helfen?

Piman Khrutmuang/Fotolia

von Prof. Dr. Gudrun Glowalla und Prof. Dr. Hendrik Müller, am 31.03.2021

Unbedingt, findet der Wirtschaftsethiker Prof. Dr. Hendrik Müller. Ohne Solidarität funktioniert das gesellschaftliche System nicht. Die Psychologin Prof. Dr. Gudrun Glowalla gibt zu bedenken, dass Menschen sich nur dann solidarisch verhalten, wenn es nicht zu anstrengend für sie ist.

Die Corona-Krise hat uns seit über einem Jahr fest im Griff. Notgedrungen haben wir uns mit den mit ihr einhergehenden Veränderungen arrangiert und auch unser Konsumverhalten angepasst. Lebensmittel und Drogerieartikel können wir wie gewohnt im stationären Handel erwerben, Bücher, Elektroartikel oder Kleidung kaufen wir stattdessen weitgehend online. Ohne es vielleicht direkt zu beabsichtigen, forcieren wir als Konsument:innen damit einen bereits seit geraumer Zeit stattfindenden Wandel, der eine direkte Folge der Digitalisierung ist und letztlich dazu führt, dass auch unsere Einkäufe zunehmend im Netz stattfinden. In der Online-Welt aber dominieren die großen Plattformen wie Amazon oder Zalando, deren Geschäftsmodelle sich in Corona-Zeiten nicht nur als krisenfest erwiesen haben. Vielmehr verzeichnet der Online-Handel seit Monaten einen regelrechten „Boom“. Ganz anders stellt sich die Situation für die Mehrzahl der kleineren Anbieter dar, die bislang oft gar kein oder höchstens nur ein rudimentäres digitales Angebot haben und durch die langen Monate des Lockdowns möglicherweise kurz vor dem wirtschaftlichen Ruin stehen. Wie wichtig solidarisches Handeln ist, darüber unterhalten sich Prof. Dr. Hendrik Müller und Prof. Dr. Gudrun Glowalla.

Glowalla: Der Wandel weg vom lokalen Einzelhandel hin zum Online- Handel und den großen Plattformen wird durch Corona nur forciert, er ist schon lange im Gange. Aus meiner Sicht sind hier die Verbraucher:innen gefragt. Wer den Händler um die Ecke behalten will, der muss bei ihm einkaufen.

Die Politik ist gefordert, die ökologisch unverantwortliche Hin- und Herschickerei von Waren zu unterbinden. Warum muss die Rücksendung kostenlos sein? Die ökologischen und wirtschaftlichen Kosten der sogenannten „kostenfreien“ Rücksendung sind gesamtgesellschaftlich enorm. Warum muss die Gemeinschaft die Folgekosten tragen, wenn einzelne Personen Waren bestellen mit der erklärten Absicht, davon auch viele wieder zurückzuschicken?

Müller: Die Politik muss natürlich handeln. Sie muss allerdings in erster Linie dafür Sorge tragen, dass die zugesagten Überbrückungshilfen tatsächlich ankommen. Zudem ist sie gefordert, ein tragbares Szenario für die stufenweise Öffnung der Geschäfte zu entwickeln. Ich denke, dass wir uns als Gesellschaft insgesamt solidarisch zeigen müssen, damit sich diese Entwicklung nicht noch weiter verschärft.

Glowalla: Wenn Solidarität zu anstrengend ist, dann verzichten die Menschen allzu oft darauf. Je einfacher es ist, solidarisch zu sein, desto eher sind wir dazu bereit. Wie kriegen wir es hin, dass auch die kleinen Händler einen so bequemen und zuverlässigen Service anbieten können wie beispielsweise Amazon? Können sich die Händler nicht zusammenschließen und von den Kommunen unterstützt werden?

Prof. Dr. Hendrik Müller

Seit 2017 ist Prof. Dr. Hendrik Müller als Professor für Wirtschaftsethik und Unternehmens-
kommunikation an der Hochschule Fresenius in Hamburg tätig. Themenstellungen wie Corporate Citizenship, Corporate Social Responsibility (CSR) und ethisches Verwaltungshandeln beschäftigen ihn seit seiner beruflichen Praxis – u.a. bei Bertelsmann – aber schon seit über 20 Jahren.

Prof. Dr. Gudrun Glowalla

Prof. Dr. Gudrun Glowalla ist Professorin für Wirtschaftspsychologie, Prodekanin Forschung des FB onlineplus, Studiengangsleiterin Wirtschaftspsychologie B.Sc. / Change Management & Decision Making M.A.. Sie hat ihr Diplom in Psychologie & ihre Promotion (Dr. rer. nat.) an der Philipps-Universität Marburg absolviert. Seit 2017 ist sie an der Hochschule Fresenius im Fachbereich onlineplus GmbH, Köln, tätig.

Müller: In der Wirtschaft gibt es bereits Beispiele dafür, dass erfolgreiche Unternehmen wie Zalando kleineren Händlern ihre digitale Infrastruktur zur Verfügung stellen. Doch auch wir als Kunden sollten unsere Verantwortung erkennen und in dieser Situation ein solidarisches Verhalten zeigen. Auch wenn es noch so bequem ist, sollten wir nicht alle Produkte auf einer Plattform ordern, sondern auch kleinere Anbieter unterstützen, die möglicherweise analoge Pay-and-collect-Angebote entwickelt haben.

Ferner sind die im Gastgewerbe entwickelte Ideen nachträglich einzulösender Gutscheine oder die Möglichkeit freiwilliger Spenden geeignete Maßnahmen, damit der Markt nicht zugunsten weniger großer Anbieter „bereinigt“ wird.

Glowalla: Das Problem ist: Wenn wir Waren oder auch Dienstleistungen bestellen, dann wollen wir sie möglichst schnell bekommen. Konsum dient meist der kurzfristigen Bedürfnisbefriedigung. Wenn wir sagen, Du gibst jetzt 20 € für einen Gutschein aus und bekommst in zwei Monaten das Produkt, ist das für viele Menschen unbefriedigend. Wer weiß, ob ich dann noch so daran interessiert bin. Das Aufschieben von Belohnung – und das gewünschte Produkt in der Hand zu halten, ist eine Belohnung – fällt vielen Menschen schwer.

Bedenklich finde ich die aktuellen großen Rabattschlachten. Da schaden sich die Händler gegenseitig. Die Händler suggerieren uns durch die Rabattschlachten: Wer jetzt etwas einkauft und nicht kräftig Rabatt bekommt, der macht etwas falsch. Tatsächlich wäre es für die Händler aktuell wichtig, möglichst viel Gewinn zu machen, um aus der Talsohle herauszukommen. Aber der Wunsch, möglichst viel zu verkaufen und der Konkurrenzdruck, die anderen bieten doch alle Rabatt an, werden dazu führen, dass zwar viele Waren verkauft, aber nur wenig Gewinn erzielt wird. Und als solidarisch kann man das Verhalten auch nicht bezeichnen.

Müller: Das müsste etwas differenzierter betrachtet werden: Zwar gilt der Markt vielen gemeinhin ohnehin als Ort der Profitgier und des Egoismus, doch offensichtlich ist er besser als ein Ruf. Vertreter der ordnungsethischen Schule der Wirtschaftsethik sehen in ihm eher das bisher bekannteste Mittel zur Verwirklichung der gegenseitigen Solidarität. Und gerade in der Sozialen Marktwirtschaft ist der Solidargedanke eine tragende Säule und führt dazu, dass der Beitrag für die gesetzliche Krankenversicherung unabhängig vom individuellen Erkrankungsrisiko immer gleich hoch ist. Das solidarische Prinzip lenkt uns derzeit auch bei der Befolgung der Corona-Regeln zum Schutz der Älteren. Die Corona-Pandemie hat ohnehin offenbart, wie vernetzt unsere ökonomischen Prozesse mittlerweile gestaltet sind. Der Erfolg der raschen Impfstoffentwicklung durch mehrere miteinander konkurrierende Anbieter kann als Beleg dafür dienen, dass es in der Wirtschaft so etwas wie die gegnerische Kooperation geben kann.  Für uns alle darf letztlich nicht allein der individuelle Nutzen im Vordergrund stehen, sondern angesichts zunehmender Ungleichheit und wachsendem Populismus müssen wir das kostbare Gut des Gemeinwohls stärken.

Glowalla: Aber leider erleben wir neben der Solidarität auch die Raffgier und den Egoismus. So wird beispielsweise beim Abruf der Hilfen für Unternehmen erheblich betrogen, zulasten aller betroffenen Unternehmen. Bundestagsabgeordnete kassieren hohe Provisionen für die Vermittlung von Maskengeschäften. Menschen drängeln sich beim Impfen vor, weil sie sich besonders wichtig fühlen. Frei nach dem Motto, wenn ich geimpft bin, ist doch alles gut. Eltern schicken ihre kranken Kinder in die Kita und die Schule, damit sie in Ruhe arbeiten können, auf Kosten der Erzieher:innen und Lehrer:innen und im Zweifelsfall auf Kosten der Gesundheit aller anderen im nahen Umfeld. Menschen halten sich nicht an die Quarantäneregeln und gefährden so die Gesundheit aller. Das Pflegepersonal wartet immer noch auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Bezahlung.

Das Argument, die Menschen sind die Corona-Pandemie leid, sie wollen die Regeln nicht mehr einhalten, ist ein entlarvendes Argument. Wenn wir etwas leid sind, dann gehen wir dem eben aus dem Weg oder ignorieren es, ohne Rücksicht auf Konsequenzen für die Gesellschaft und Gesundheit aller. Der Virus und sein Gefährdungspotential werden nicht verschwinden, nur weil wir es leid sind.

Die Corona-Pandemie führt nicht nur dazu, dass die soziale Ungleichheit immer größer wird. Sie zeigt auch immer deutlicher die guten und die schlechten Seiten des menschlichen Verhaltens. Es gibt wundervolle Zeichen der Solidarität und Anteilnahme und es gibt Ignoranz, Rücksichtslosigkeit und Habgier. Damit Solidarität und Anteilnahme die Oberhand gewinnen, ist jeder und jede Einzelne gefragt. Angefangen vom Einhalten der Regeln bis hin zur Solidarität und der Unterstützung Schwächerer. Wir sollten nicht auf die anderen zeigen und ihnen sagen, wie sie sich zum Wohle der Gesellschaft verhalten sollten. Wir sollten uns selbst fragen, ob wir nicht einen größeren Beitrag für die Überwindung der Pandemie und die solidarische Gestaltung unserer Gesellschaft leisten könnten.

Über den Autor

Prof. Dr. Gudrun Glowalla und Prof. Dr. Hendrik Müller
Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.