Wirtschaft und Management

„Wir müssen Ruhephasen wieder zulassen“

von Redaktion, am 28.10.2013

Am Thema Gesunde Führung kommt derzeit niemand vorbei: zu laut fordern Verbände, Parteien oder Wissenschaftler von Unternehmen einen gesundheits- schonenden Umgang mit den Mitarbeitern. Doch was genau müssen Führungskräfte eigentlich tun, um diese Forderungen zu erfüllen? Zunächst einmal müsse man den Mitarbeiter als Individuum wahrnehmen, fordert Prof. Stefan Wiedmann, Ökonom und Prodekan des Fachbereichs Wirtschaft & Medien an der Hochschule Fresenius München. Ein Gespräch über die Beschleunigung der Arbeit, die Notwendigkeit von Ruhephasen und kalbende Kühe.

Sie beschäftigen sich seit Langem mit dem Thema Gesunde Führung, das begann damals schon in Ihrer Doktorarbeit. Was fasziniert Sie so daran?

Ganz einfach: das ist der zentrale Schlüssel für jedes erfolgreiche Unternehmen. Wenn man sich vor Augen führt, dass die eigentliche Existenzberechtigung von Unternehmen die Deckung des fremden Bedarfs ist, dann benötigt ein Unternehmen kreative, mitdenkende und leidenschaftliche Mitarbeiter, die hinter ihrer Aufgabe und dem Unternehmen stehen. Und genau darum geht es in der Führung, ein solches Umfeld für jeden einzelnen Mitarbeiter zu schaffen.

Das Thema ist ja heute in aller Munde. Ob Gewerkschafter, Arbeitgeber, Politiker oder Wissenschaftler – es gibt kaum einen gesellschaftlichen Akteur, der nicht auf gesunde Führung pocht. Woran liegt das?

In den letzten Jahrzehnten gab es eine enorme Beschleunigung der Arbeit, die aber nicht immer zu mehr Geld oder Prestige beigetragen hat. Die Leute müssen heute immer mehr in immer weniger Zeit leisten, leben in der Ungewissheit der dauerhaften Restrukturierung, hinterfragen den Sinn ihrer Tätigkeit und haben auf der anderen Seite laufende Verpflichtungen und familiäre Verantwortung. Das kann auf Dauer für die meisten Menschen natürlich nicht gut gehen.

Zwar wird gesunde Führung überall gefordert, aber nicht überall gelehrt. Ich möchte Ihnen dazu gerne etwas vorlesen: „Führung bedeutet die Ausübung von Autorität, Macht und Herrschaft. Sie hat die Aufgabe, Orientierung zu schaffen, Koordinierungs-, Regel- und Steuerungsleistungen zu erbringen, zu kontrollieren und Verantwortungs- sowie Repräsentationspflichten zu übernehmen“ – nur eine von vielen klassischen Definitionen des Begriffs „Führung“, in der das Wort Gesundheit nicht vorkommt. Diese Definitionen werden aber weiterhin an deutschen Hochschulen gelehrt. Was muss sich hier ändern?

Die Definition ist ja nicht falsch. Aber eine gute Führungskraft sieht den Menschen im Mittelpunkt – sowohl den Kunden als auch den Mitarbeiter. Die Kunst ist, jeden als Individuum wahrzunehmen und entsprechend der Neigungen und dem aktuellen Entwicklungsstand zu fördern. Man muss sich von dem Gedanken verabschieden, mit nur einem Führungsstil ein Team führen zu können. Es kommt immer auf die Person mit deren Erfahrung und persönlichen Zielen an, die aktuelle Situation des Unternehmens und auch die Führungskraft. Gesunde Führung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die individuellen und die Unternehmensziele zusammenpassen.

Was bedeutet das genau?

Es ist wichtig, dass die Arbeit auch den Mitarbeiter in der Entwicklung weiterbringt und diese Person eine Sinnhaftigkeit der Tätigkeit erlebt. Dann rückt die Arbeit als inhaltsvolle Aufgabe in den Vordergrund und auch die Freude, diese erledigen zu können. Der Begriff des „Work-Life-Balance“ müsste daher in „Life-Balance“ umdefiniert werden. Denn dies ist eigentlich ein Wiederaufleben einer Arbeitsform, die die Menschen lange lebten: denken Sie an den Landwirt, bei dem um 3 Uhr in der Früh die Kuh kalbt – dieser konnte auch nicht sagen, dass seine Schicht erst um 8 Uhr beginnt. Oder denken Sie an Picasso, der vor Begeisterung und ohne Pause Kunstgegenstände erstellen konnte. Da wurde auch nicht um 17 Uhr der Stift beiseitegelegt, sondern durchgemacht. Der große Unterschied zu dieser Arbeitsform ist jedoch heute, dass die Zeit der Ruhe und Entspannung zurückgedrängt wurde. Landwirte oder Künstler hatten gewollt oder erzwungenermaßen Zeiten der Ruhe. Diese Phasen müssen wir wieder zulassen.

Wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, bis die ersten Manager von den Hochschulen abgehen, die ein gesundheitsbewusstes Verständnis von Führung verinnerlicht haben, also genau diese Ruhephasen, von denen Sie eben gesprochen haben, zulassen?

Nun, an der Hochschule Fresenius lehren wir das bereits im ersten Semester. In der Tat sehen wir bei den Unternehmen eine Vielzahl an Bestrebungen, die gesunde Führung durch Aktionen zu unterstützen: sei es der Qigong- oder Rückenkurs auf der Wiese, seien es die ergonomisch optimierten Büromöbel oder die klare Struktur der Personalentwicklung. Es wird nach meiner Erfahrung vieles erprobt und das Thema ist bei vielen Unternehmen ernsthaft angekommen. Dennoch bleibt es eine wichtige Frage, welches Verhalten in einem Unternehmen erwünscht ist: wie ist zum Beispiel die Fehlerkultur in einem Unternehmen, also wie geht man mit Fehlern um? Gibt es Zeiten, in denen Mitarbeiter nicht erreichbar sein sollen, beispielsweise im Urlaub? Gibt es eine Kultur des Lästerns oder des Vertrauens? Dürfen Mitarbeiter ihre Funktion vollumfänglich ausfüllen oder wird diese dauerhaft untergraben?

Zwischen der Art von Führung und der psychischen Gesundheit der Mitarbeiter gibt es einen Zusammenhang, das haben viele wissenschaftliche Studien gezeigt. Wenn die Führungskraft instrumentelle und emotionale Unterstützung anbietet, so heißt es in diesen Studien, empfinden die Mitarbeiter die individuelle Beanspruchung weniger als Belastung – und bleiben gesünder. Was bedeutet in diesem Zusammenhang instrumentelle und emotionale Unterstützung? Können Sie Beispiele geben?

Bei der instrumentellen Unterstützung geht es um ein Angebot an Möglichkeiten, von denen der Mitarbeiter profitieren kann, sei es die Gleitzeit, innovative Arbeitszeitkonten oder das Homeoffice. Das ähnelt sehr dem sogenannten Baukasten-System, bei dem sich Kunden ihre Produkte bei Einhaltung einiger Vorgaben selbst zusammenstellen können. Hier ist IKEA mit dem modularen Schranksystem ein oft zitiertes Beispiel. Das gibt Freiheiten und Wahlmöglichkeiten, die sehr geschätzt werden. Bei der emotionalen Unterstützung tritt die Führungskraft in die Rolle eines Coaches. Diese Person begleitet den Prozess und den Mitarbeiter mit Fragen und konstruktivem Feedback. In beiden Bereichen wird der Mitarbeiter als Person ernst und vor allem: wahrgenommen.

Was zählt noch zu einem „Gesunden Führungsstil“?

Die Mönche des Benediktiner-Ordens sprechen von „ora et labora“ – also „bete und arbeite“. Das wichtigste dieser drei Wörter ist jedoch das „et“, das „und“. Bei gesunder Führung geht es auch darum, die Vielfalt der Tätigkeiten zu fördern und nicht nur eine Handlungsform zu unterstützen.

Wie steht es denn um die Vorbildfunktion der Führungskraft? In Artikeln zum Thema finden sich häufig Sätze wie dieser: „Die Gesundheit der Führungskraft selbst ist eine zentrale Voraussetzung für die Leistungsbereitschaft und Gesundheit der Mitarbeitenden.“ Worauf muss die Führungskraft also achten?

Ja, hier kommen wir dann zu den Grenzen des Modells, was ich unglaublich spannend finde. Denn viele Personen vernachlässigen in ihren Führungsmodellen und im Anspruchshalten der Mitarbeiter, dass auch die Führungskraft ein Mensch ist und die gleichen Bedürfnisse hat wie die Mitarbeiter. Eine Führungskraft muss nicht nur die strategische Ausrichtung des Unternehmens steuern und die Marktentwicklung beachten, den Bezug zu den zentralen Kunden pflegen, sich vor den eigenen Vorgesetzten oder Anteilseignern rechtfertigen, die internen Prozesse und Strukturen im Blick haben, sondern auch das Unternehmen würdig repräsentieren und auf einzelne Mitarbeiter eingehen. Da ist es schon von Vorteil, wenn die Führungskraft körperlich und geistig stabil ist.

Wie wichtig ist das Einhalten der Grenze zwischen Privat- und Arbeitsleben? In einigen Firmen wird diese Grenze komplett dicht gemacht: Bei VW werden zum Beispiel bereits 30 Minuten nach Dienstschluss keine E-Mails mehr weitergeleitet. Ist das ein richtiger Schritt in Richtung „Gesunde Führung“?

Das dokumentiert die Aktualität dieses Themas und die Hilflosigkeit vieler Unternehmen. Wie schon erwähnt, werden die Grenzen immer weiter verschwimmen: sowohl im Tagesablauf als auch im Berufsleben. So klare Zeitfenster wie ‚Freizeit‘ oder ‚Ruhestand‘ wird es zukünftig nicht geben. Die große Herausforderung wird sein, dass jede Person das optimale Lebensumfeld findet. Bei den sogenannten Stressjunkies bringt es beispielsweise nichts, wenn man diese in ein klar strukturiertes Korsett packt und ihnen das Handwerkzeug abschaltet. Viel wichtiger wäre, das Bewusstsein über die Selbstverantwortung der Personen zu schärfen und eine ausgewogene Arbeitsaufgabe zur Verfügung zu stellen.

Es ist aktuell eine unglaublich spannende Zeit, in der die Menschen wieder in den Fokus der Betrachtung kommen: Auf der Marktseite sehen wir das sogenannte Mass-Customizing, das den Kunden in den Mittelpunkt rückt. Bei den Mitarbeitern stellt nicht nur die oft erwähnte „Generation Y“ verstärkt die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Arbeit und der sozialen Auswirkung auf die Gesellschaft. Sie sehen: Führung ist mehr denn je „People Business“ und das macht den Facettenreichtum dieser Aufgabe umso herausfordernder und zeitgleich attraktiver.

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Redaktion
Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

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