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Psychologie und Wirtschaftspsychologie

Wie treffen Menschen Entscheidungen?

von Melanie Hahn, am 09.03.2021

Die Umwelt vieler Unternehmen wird komplexer und dynamischer. Der Druck, schnell auf Veränderungen am Markt reagieren zu können, steigt. Um dieser Situation gerecht werden zu können, setzen viele Unternehmen auf flache Hierarchien, dezentrale Entscheidungsbefugnisse und den Einsatz von selbstorganisierten Teams. Diese Maßnahmen ziehen allerdings eine ganze Reihe neuer Herausforderungen nach sich. Wie können wir in einer komplexer werdenden Organisationsumwelt zu guten und tragfähigen Entscheidungen kommen? Fragen, die uns der Wirtschaftspsychologe Michel Eggebrecht im adhibeo-Interview beantwortet. Er ist Dozent an der Hochschule Fresenius in Hamburg und befasst sich seit Jahren mit dem Thema Gruppenarbeit, Entscheidungsfindung und Konfliktmanagement.

Wie treffen Menschen typischerweise Entscheidungen?

Sehr viel irrationaler als wir es vielleicht annehmen. Wir wenden verschiedene kognitive Entscheidungsregeln an, sind uns aber in der Regel dessen nicht bewusst. Entscheidungsregeln sind Abfolgen gedanklicher Schritte der Informationsverarbeitung. Um ein paar Beispiele zu nennen: Häufig spielen wir einfach unterschiedliche Optionen gedanklich nacheinander durch und entscheiden uns für die erstbeste Option, die bestimmte Minimalbedingungen erfüllt (=Satisficing-Regel). Von der Schwellenregel sprechen wir, wenn wir Optionen unter- oder oberhalb bestimmter Cut-Off-Werte ausschließen („Alle Autos über 12.000€ kommen nicht infrage“). Manchmal betrachten wir Optionen auch lediglich hinsichtlich des wichtigsten Kriteriums und ziehen nur ein zweites Kriterium heran, wenn mehrere Optionen auf dem wichtigsten Kriterium gleich gut abschneiden (LEX-Regel). Je nachdem welche Regeln wir anwenden, gelangen wir zu unterschiedlichen Entscheidungen. Abhängig von Zeitdruck, Komplexität und Tragweite der Entscheidung sowie unseren eigenen Entscheidungsgewohnheiten ziehen wir intuitiv unterschiedliche Entscheidungsregeln heran.

Bestenfalls wählen wir je nach Situation passende Entscheidungsregeln. Beim Hauskauf benötige ich für eine gute Entscheidung ein anderes Vorgehen als für die Wahl der Eissorte. Der erste Schritt für bessere Entscheidungen besteht darin, sich beim Anwenden der Entscheidungsregeln zu beobachten. Erst dann kann ich hinterfragen, ob ich nicht beispielsweise vorschnell gute Optionen ausschließe oder zu wenig Kriterien heranziehe.

Die Organisationsumwelt wird immer komplexer und auch unsicherer. Was bedeutet das konkret für den Prozess der Entscheidungsfindung

Dort, wo einzelne Führungspersonen früher noch einen ausreichend umfangreichen Überblick hatten, um tragfähige Entscheidungen zu treffen, stellt sich immer öfter Überforderung ein. Das notwendige Wissen für eine gute Entscheidung verteilt sich häufig auf viele Köpfe. Führungskräfte müssen und sollten nicht alles selber entscheiden. Vielmehr geht es zunehmend darum, über die Gestaltung von Entscheidungsprozessen gute Entscheidungen herbeizuführen, sich also zu überlegen, wer wann, mit wem, wie, was entscheiden sollte. Das stellt Organisationen natürlich auch vor Herausforderungen: Was machen wir, wenn auf einmal alle mitreden wollen? Wenn langatmige Diskussionen, das Vorankommen verhindern? Wie gehen wir damit um, wenn die Beteiligten nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen? Wie lösen wir Pattsituationen auf, wenn niemand mehr dem Gesamtüberblick hat?

Ein zweiter Aspekt einer komplexen Umwelt ist, dass ich immer damit rechnen muss, dass sich die Vorzeichen meiner Entscheidung verändern (zum Beispiel, weil auf einmal ein Konkurrenzprodukt auf den Markt kommt oder die Anforderungen des Kunden wechseln). Ich sollte aufpassen, Entscheidungen nicht unnötig früh in Stein zu meißeln. Wenn ich heute ein Haus kaufe, aber erst in zwei Jahren einziehen will, gehe ich Risiken ein: In der Zwischenzeit bekomme ich ein attraktives Jobangebot in einer anderen Stadt oder meine Frau bekommt Zwillinge und wir brauchen mehr Zimmer als geplant. Es kann also durchaus sinnvoll sein, Entscheidungen bewusst hinauszuzögern.

Schon seit Jahrzehnten werden die Hierarchien flacher, Teamarbeit immer gefragter. Gibt es nicht trotzdem Situationen, in denen einer das letzte Wort haben muss?

Ein klares Jein. Jedes Unternehmen muss in der Lage sein, Pattsituationen aufzulösen. Wenn der Anspruch nach einem gemeinsamen Konsens verhindert, dass eine Entscheidung getroffen wird, ist es handlungsunfähig und die Organisation gelähmt. Das „Machtwort“ eines Hierarchen kann hier ein probates Mittel sein, Handlungsfähigkeit herzustellen. Es gibt aber durchaus andere Mechanismen. Ich könnte beispielsweise für bestimmte Entscheidungen festlegen, dass bei Uneinigkeit per Abstimmung entschieden oder dass die Entscheidung an ein Gremium delegiert wird.

Für welche Prozesse eignen sich selbstorganisierte Teams besser?

Ein selbstorganisiertes Team ist so etwas wie eine „Taskforce auf Dauer“. Personen mit unterschiedlichen Kompetenzen arbeiten an einem gemeinsamen Ziel und stehen regelmäßig vor komplexen Entscheidungssituationen. Gerade wenn diese Entscheidungssituationen unterschiedliches Know-how erfordern, sind selbstorganisierte Teams im Vorteil. Je eigenverantwortlicher Teams entscheiden können, desto schneller geht es voran. Wenn immer noch eine Führungskraft das letzte Wort haben will, wird sie zum Engpass werden. Zudem bestünde die Gefahr, dass das Team nur noch versucht, zu erraten, was wohl der Vorgesetzte will. Dann ist das Team nicht schlauer, als ihr Chef. Entscheidungen hängen bestenfalls auch nicht an einzelnen Teammitgliedern. Das heißt, wenn mal einer im Urlaub ist, ist das Team als Ganzes trotzdem entscheidungsfähig.

Gibt es keine komplexen Entscheidungssituationen und daher auch kein Koordinations-/Austauschbedarf zwischen den Teammitgliedern, benötige ich in der Regel auch kein selbstorganisiertes Team.

Können Sie Tipps geben, wie einzelne Schritte und Bausteine in der Praxis aussehen könnten?

Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, einen Entscheidungsprozess zu gestalten: Workshops in großer oder kleiner Runde? Wer soll beteiligt sein? Entscheidung per Konsens, per Abstimmung oder doch per Einzelentscheid? Einfache oder absolute Mehrheit? Moderne Entscheidungsverfahren wie der konsultative Einzelentscheid oder das systemische Konsensieren? Erst eine ausführliche Analyse oder direkt zum Punkt? Welche Dinge betrachten wir als gesetzt? Was steht noch zur Debatte? …

Bevor man all diese Fragen beantwortet, würde ich den Blick auf die verschiedenen Entscheidungsprozesskriterien richten. Das erste Entscheidungsprozesskriterium ist die Tragweite der Entscheidung. Es macht für die Gestaltung des Entscheidungsprozesses einen Unterschied, ob ich bei einer Fehlentscheidung die Existenz des Unternehmens auf Spiel setze oder es um die neue Wandfarbe im Meeting-Raum geht. Interessanterweise beobachtet man in der Praxis, dass dem nicht immer angemessen Rechnung getragen wird. Über Kleinigkeiten wird stundenlang diskutiert oder große Entscheidungen, werden zwischen Tür und Angel getroffen. Ein weiteres Kriterium ist beispielsweise die Interessenslage: Eine große Umstrukturierung, die mit Versetzungen, neuen Teamaufteilungen und anderen Verantwortlichkeit einhergeht, werde ich voraussichtlich nicht im Konsens entscheiden können. Die Interessen sind zu unterschiedlich. Mehr dazu gibt es in meinem Buch: Entschieden! Wie du im agilen Umfeld gute Beschlüsse herbeiführst.

Über den Autor

Melanie Hahn
Melanie Hahn ist Teil der adhibeo-Redaktion und arbeitet als Pressesprecherin für die Fachbereiche Wirtschaft & Medien und onlineplus der Hochschule Fresenius.