Gesundheit, Therapie und Soziales

Wirtschaft und Management

„Wer soll das bezahlen?“ – ein gesundheitsökonomisches Statement zum vorläufigen Koalitionsvertrag

von Prof. Dr. Andreas Beivers, am 08.02.2018

Der vorläufige Koalitionsvertrag setzt einen Schwerpunkt im Bereich Gesundheit und Pflege. Doch wie realistisch sind die Ziele und Forderungen der Politiker? Prof. Dr. Andreas Beivers, Gesundheitsökonom und Studiendekan Management und Ökonomie im Gesundheitswesen (B.A.) an der Hochschule Fresenius in München, Fachbereich Wirtschaft & Medien, hat sich die einzelnen Bereiche für adhibeo genauer angeschaut und bewertet. Lesen Sie hier seine Einschätzungen:

Nach langen, zähen Verhandlungen haben sich nun die Union und die SPD auf einen vorläufigen Koalitionsvertrag geeinigt, der den Kompass u.a. für die gesundheitspolitische Reformagenda aufzeigen soll – sofern er nicht noch von der SPD-Basis gekippt wird.

Das Kapitel vier „Gesundheit und Pflege“ umfasst dabei ein Volumen von acht Seiten und zeigt damit die relative große Bedeutung des Gesundheitswesens für diese Koalition auf. So unterteilt sich das Kapitel in neun Themenkomplexe, in denen die Koalitionäre ihre Visionen und Reformpläne skizzieren. An vielen Stellen bleiben sie aber sehr vage und verschieben die Beschlussfindung über das genaue Vorgehen in die Zukunft, unter Bezug auf Ergebnisse von einzurichtenden Ausschüssen, Expertenbeiräten und Arbeitsgruppen. Im Folgenden sollen zu ausgewählten Punkten je Themenkomplex erste Einschätzungen aus gesundheitsökonomischer Sicht gegeben werden.

Themenkomplex Pflege

Schon recht früh war klar, dass sich die Koalition diesem Thema prioritär annehmen wird, nicht zuletzt aufgrund einer hohen medialen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und der Brisanz des Themas. Aufbauend auf den Pflegestärkungsgesetzen aus der letzten Legislatur sollen nun weitere Sofortprogramme für die Pflege erfolgen und auch die einzelnen Aktivitäten in einer Konzertierten Aktion für Pflege gebündelt werden. Dies ist zunächst positiv zu bewerten, da der Handlungsdruck in diesem Bereich, gerade auch in der Altenpflege, besonders groß ist. Eine primär gesellschaftspolitisch benötigte Aufwertung des Berufsbildes der Pflege wird fokussiert und v.a. versucht, durch eine erhöhte Vergütung sicherzustellen. Ein Sofortprogramm für 8.000 neue Fachkraftstellen ergänzt dieses Vorhaben. Auch wenn dies ein gutes Signal für die Pflege insgesamt darstellt, muss berücksichtigt werden, dass dies vollständig aus den Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) finanziert werden soll und muss. Auch wenn gerade u.a. aufgrund guter Konjunktur der Gesundheitsfonds über ausreichende Mittel verfügt, lässt dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die GKV zumindest zukünftig – nicht nur durch die Herausforderungen des demografischen Wandels – vor enormen Finanzierungsherausforderungen steht. Wie nun diese auf Dauer höheren Kosten langfristig – v.a. ohne Beitragserhöhungen – finanziert werde sollen, bleibt gänzlich offen.

Auch ist fraglich, ob 8.000 neue Stellen bei rund 14.000 Pflegeheimen und rund 13.0000 ambulanten Pflegediensten wirklich helfen, die Personalknappheit zu bewältigen – bedeutet diese teure Aktion am Ende dann doch bloß knapp eine Drittel-Pflegekraft pro Einrichtung.

Einen verbesserten Wiedereinstieg für Pflegefachkräfte zu ermöglichen ist indes zu begrüßen, ebenso wie vereinfachte Weiterbildungsmöglichkeiten als auch die Honorierung von längeren Anfahrtswegen in ländlichen Regionen.

Die Einführung eines Pflegemindestlohnes ist aus ökonomischer Sicht eher kritisch zu sehen. Wie aus der ökonomischen Theorie bekannt und auch von der Empirie belegt, kann dieser nur oberflächlich helfen, die Pflegenden besserzustellen. Vielmehr führen staatlich administrierte Preise immer zu Über- und Unterangeboten, je nach Höhe und regionalem Bedarf.

Die beschlossene, vollständige Refinanzierung von Tariflohnerhöhungen im Krankenhausbereich mag zwar einzelne Krankenhausträger erfreuen, doch ist dies gesundheitsökonomisch bedenklich: Zum einen aus dem Aspekt der nachhaltigen Finanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems, zum anderen werden damit keine Anreize gesetzt, z.B. durch neue Prozesse oder digitalem Fortschritt substituive, kostensparende Versorgungsmodelle mit gleich hoher Behandlungsqualität zu implementieren.

Themenkomplex sektorenübergeifende Vergütung

Sich diesem Evergreen-Thema mit einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe anzunehmen, scheint ehrenwert, jedoch bleibt der Koalitionsvertag an dieser doch so wichtigen Stelle inhaltsleer. So wird die Arbeitsgruppe zwar gebeten, sektorenübergreifend die Bedarfsplanung, Zulassung, Honorierung etc. unter Berücksichtigung der telematischen Infrastruktur bis 2020 anzupassen. Ob dies gelingen kann, bleibt dabei vollkommen offen. Schön wäre hier gewesen, wenn die politischen Akteure den Mut gehabt hätten, schon jetzt Vorgaben und einen klaren Zielhorizont (…wie beispielsweise ambulante Fallpauschalen) zu formulieren. So besteht die Gefahr, dass die Ergebnisse weiterhin nur an der Oberfläche kratzen, wie schon so häufig.

Ambulante Versorgung

Insbesondere hier werden Themen aus dem letzten Koalitionsvertrag nochmals „aufgewärmt“, um u.a. die immer wieder zitierte „Zwei-Klassen-Medizin“ zu überwinden. Ob dabei eine Ausweitung der Terminservicestellen helfen kann, ist mehr als fraglich. Die ersten Erfahrungen damit haben ja gezeigt, dass man ggf. heterogene Zugänge damit nur äußerst marginal internalisieren kann. Auch scheint die Erhöhung der Mindestsprechzeiten von Ärzten wohl eher ein Tropfen auf dem heißen Stein und dabei kaum überprüfbar zu sein.

Abermalige Zuschläge bei Ärztehonoraren in ländlichen und strukturschwachen Regionen hatten schon zahlreiche Gesetze zuvor im Visier und konnten das strukturelle Problem damit auch nicht lösen. Dass nun in ländlichen Gebieten Zulassungssperren entfallen sollen, klingt dabei eher wie Hohn – als gäbe es hier ein Überangebot an Ärzten. Man könnte beinahe annehmen, der Koalitionsvertrag widerspricht sich in diesem Punkt.

Viele kleinere Änderungen und Fortführungen, wie beispielsweise die neue finanzielle Ausgestaltung des Innovationsfonds oder die stärkeren Möglichkeiten der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), Eigeneinrichtungen zu betreiben, scheinen wenig systemrelevanten und verändernden Charakter zu haben. Auch sollen – wie schon in der letzten Legislatur – die Apotheken vor dem Versandhandel geschützt werden. Allerdings war und ist unklar, inwiefern hier die europäische Rechtsprechung nicht Vorrang hat.

Bei einem ganz zentralen Punkt, der Bürgerversicherung, konnte sich die SPD nicht durchsetzen. Eng damit verknüpft ist jedoch die Reformierung und ggf. Zusammenlegung der ambulanten Honorarordnung in der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Gebührenordnung der Privaten Krankenversicherung. Um die bestehenden Möglichkeiten einer Reformierung zu eruieren, soll auf Vorschlag des Bundesgesundheitsministeriums eine wissenschaftliche Kommission eingesetzt werden, die bis Ende 2019 Vorschläge erarbeiten soll. Ob diese Vorschläge dann umgesetzt werden, wird danach entschieden. Unabhängig davon, wie man ein derartiges Vorgehen gesundheitsökonomisch zu bewerten hat, vermisst man abermals den politischen Mut, sich für eine Richtung zu entscheiden. Fehlt jedoch ein klarer politischer Wille und Auftrag, lässt dies nur zögerlich bahnbrechende Ergebnisse erwarten. In Anbetracht der Tatsache, wie dieses Thema ex ante diskutiert wurde, ist der Inhalt des Koalitionsvertrages diesbezüglich überraschend unspektakulär.

Themenkomplex Krankenhäuser

Auch in diesem Bereich sind – mit Ausnahme bei der Notfallversorgung – keine bahnbrechenden strukturellen Erneuerungen zu erwarten. Das Thema der Investitionsfinanzierung wird wieder kaum angegangen, der Strukturfonds aus der letzten Legislatur wird neu aufgelegt und Detailfragen, die seit Einführung des Krankenhausstrukturgesetzes noch offen sind (z.B. die Zentrenplanung), werden nun auch nicht gelöst.

Als ordnungspolitischer Irrweg muss jedoch das Ziel beurteilt werden, Pflegepersonalkosten künftig unabhängig von Fallpauschalen zu vergüten und die Vergütung auf eine Kombination von Fallpauschalen und einer Pflegepersonalkostenvergütung umzustellen. Dabei sollen die DRG-Berechnungen um die Pflegepersonalkosten bereinigt werden. Aus gesundheitsökonomischer Sicht erscheint dies als ein Rückfall in das Selbstkostendeckungsprinzip der 1990er Jahre. Deutschland hat ab 2003 mit viel Mühe und Aufwand ein sehr aufwändiges und gut kalkuliertes Fallpauschalensystem eingeführt, welches sogar von anderen Ländern adaptiert wurde. Dies war erklärter politischer Wille. Eine derartige Aufweichung dieses Systems erscheint aus gesundheitsökonomischer Sicht problematisch. Dadurch wird nicht nur die Kostentransparenz verringert, sondern auch der Anreiz, mit (digitalen) Innovationen Knappheit zu überwinden. Vielmehr können dadurch Ineffizienzen zementiert werden.

Die Einführung von Personaluntergrenzen sind dabei ein zusätzlicher Eingriff in die Autonomie des Krankenhausmanagements. Auch gilt es in diesem Zusammenhang zu klären, wer genau zur Berufsgruppe der „Pflege“ zählt. Medizinische Fachangestellte, Therapeuten als auch der medizinisch-technische Dienst – alles für den Klinikbetrieb essentiell wichtige Berufsgruppen – scheinen nicht berücksichtig worden zu sein.

Positiv ist anzumerken, dass das Thema der Notfallversorgung Einzug in den Koalitionsvertrag gefunden hat. Eine Neujustierung der Verantwortlichkeiten in diesem Bereich, v.a. bei der ambulanten Versorgung, und eine gleichzeitige Anpassung der Vergütungssystematik, ist dringend von Nöten. Wenn nun Versorgungsaufträge jedoch neu verteilt werden, bleibt zu klären, inwiefern hier die Länder dann eine planende Funktion übernehmen und wie die Bereinigung und Anpassung der Vergütungssystematiken genau erfolgen sollen. Hierzu lässt der Koalitionsvertrag beinahe noch alles offen und kommt über eine Absichtserklärung nicht hinaus. Daher bleibt zu hoffen, das konkrete Schritte bald angegangen werden.

Themenkomplex Gesundheitsberufe

Laufende Programme, wie der Masterplan Medizinstudium 2020 werden gestärkt, bereits alte und wiederkehrende Forderungen (wie z.B. die Stärkung der Allgemeinmedizin auch in der Ausbildung etc.) werden bekräftigt. Ob dadurch grundsätzliche Änderungen zu erwarten sind, bleibt fraglich. Auch wie und ob neue Gesundheitsberufe neue Kompetenzen übernehmen und wie genau dies geregelt werden soll, lässt der Koalitionsvertrag offen.

Neu ist hingegen, dass zukünftig für alle Gesundheitsfachberufe das Schulgeld für die Ausbildung abschafft werden soll, so wie es in den Pflegeberufen bereits geschehen ist. Dies ist für die Auszubildenden gut und ein wichtiger Schritt. Allerdings bleibt an dieser Stelle offen, wer zukünftig die Finanzierung übernimmt. Die GKV oder Steuermittel – und wenn ja, in welcher Höhe. Die Konkretisierung bleibt hier abzuwarten.

Ob die Akademisierung des Hebammenberufes nach EU-Vorgaben die vorherrschenden Probleme löst, bleibt mehr als offen.

Themenkomplex Prävention und Globale Gesundheit

Neben den allgemeinen, richtigen und begrüßenswerten, aber nicht neuen Bekenntnissen zur Prävention, ist positiv hervorzuheben, dass ein nationales Gesundheitsportal aufgebaut werden soll, in dem sich Patientinnen und Patienten im Internet über medizinische Fragestellungen und Strukturen unseres Gesundheitswesens informieren können. Man sollte jedoch aufpassen, dass man hier nicht zu kurz springt. Beispiele wie Dänemark zeigen, dass durch derartige Portale die Bevölkerung nicht nur besser aufgeklärt, sondern auch im Bedarfsfall gesteuert werden kann. Die Verfügbarkeit der eignen Gesundheitsdaten in ein derartiges Portal zu integrieren – was in Dänemark zu sehr guten Ergebnissen geführt hat – sollte unbedingt auch für Deutschland überdacht werden. Ansonsten läuft man Gefahr, nicht die gewünschten Effekte zu erzielen.

Das Bekenntnis Deutschlands, auch Strategien zur globalen Gesundheitspolitik zu erarbeiten, kann nur begrüßt werden.

Themenkomplex E-Health und Gesundheitswirtschaft

Dieses zentrale und äußert wichtige Thema findet löblicherweise Einzug in den Koalitionsvertrag, bleibt aber in nahezu allen Punkten zu sehr an der Oberfläche. Einige der dort angesprochenen Punkte waren schon Ziel des E-Health-Gesetzes aus der letzten Legislatur und wurden bis dato immer noch nicht flächendeckend umgesetzt (wie beispielsweise eine Anpassung des Fernbehandlungsverbotes). Positiv ist, dass die Einführung der elektronischen Patientenakte für alle Versicherten in dieser Legislaturperiode versprochen wird. Bleibt nur zu hoffen, dass sich eine Bundesregierung daran auch messen lässt.

Themenkomplex Finanzierung

Ab 1. Januar 2019 sollen die Beiträge zur Krankenversicherung wieder in gleichem Maße von Arbeitgebern und Beschäftigten geleistet werden, sprich der Zusatzbeitrag soll paritätisch finanziert werden. Dies ist in Anbetracht der aktuellen Haushaltslage nachvollziehbar. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass der Gesundheitsfonds mit seinen Zusatzbeiträgen das Produkt einer großen Koalition ist, die sich dadurch nicht nur spezielle Steuerungsinstrumente, sondern auch eine demografie-festere Finanzierung erhoffte. Scheinbar hat man diese Steuerungswünsche nun über Bord geworfen. Auch wenn dies derzeit nachzuvollziehen ist, ändert es doch nichts an der grundlegenden Frage, wie das Finanzierungssystem auf die zukünftigen Herausforderungen ausgerichtet sein muss. Hierzu finden sich leider keine Aussagen.

Eine Neuanpassung und Ausrichtung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs ist hingegen als positiv zu bewerten. Es wäre jedoch wünschenswert gewesen, an dieser Stelle konkreter zu werden und die Frage u.a. nach einer stärkeren Regionalisierung zu beantworten und politischen Willen zu zeigen. Leider ist lediglich eine inhaltsoffene Absichtserklärung zu finden.

Fazit

Der Koalitionsvertrag im Bereich Gesundheit und Pflege zeigt, dass sich die Partner schwertaten, wirklich neue Themen anzugehen. Daher werden viele aus der vergangen Legislatur noch offenen Punkte weiter vertieft und teilweise konkretisiert. An vielen Stellen bleiben die Aussagen jedoch sehr vage. Da sich die SPD bei der Bürgerversicherung anscheinend nicht durchsetzen konnte, wurden an anderer Stelle Themen, wie beispielsweise die Ausbildung, Finanzierung und Sicherstellung der Pflege, sehr ausführlich bearbeitet. Auch der Wiedereinzug der Parität ist anzumerken.

Selbst wenn dies für einzelne Akteure im Gesundheitswesen positive Nachrichten sind, bleibt die Frage der nachhaltigen Finanzierung all der v.a. auf Dauer angelegten Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen gänzlich offen. Dies kann jedoch aus dem Aspekt der Nachhaltigkeit und v.a. der Generationengerechtigkeit kritisch diskutiert werden. Der Eingriff in das Fallpauschalensystem scheint ein ordnungspolitischer Irrweg zu sein.

Ob es zu einer Kernforderung der SPD – einer Harmonisierung der Gebührenordnungen – kommt, bleibt offen. Hier werden, wie an vielen Stellen, zunächst Arbeitsgruppen, Ausschüsse und Expertenzirkel ihre Arbeit aufnehmen müssen: Ausgang unklar.

Über den Autor

Prof. Dr. Andreas Beivers
Prof. Dr. Andreas Beivers lehrt als Gesundheitsökonom und Studiendekan im Bereich Management und Ökonomie im Gesundheitswesen (B.A.) an der Hochschule Fresenius in München.

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