Psychologie und Wirtschaftspsychologie

Sport und Tourismus

Freunde im Vierjahresrhythmus

svetikd/iStock

von Redaktion, am 05.11.2015

Der Mensch ist ein soziales Wesen, er hat ein tiefes Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Die Familie, der Freundeskreis – damit kann er sich für gewöhnlich identifizieren. Können sich Menschen aber auch einer Gruppe zugehörig fühlen, die nur sporadisch zusammentrifft und außerdem äußerst heterogen ist? Dr. Angela Wichmann, Dozentin an der Hochschule Fresenius München, hat versucht, diese Frage am Beispiel der Weltgymnaestrada-Community zu beantworten.

Als im Sommer 2015 rund 21 000 Turnerinnen und Turner aus 55 verschiedenen Ländern in Helsinki zusammentrafen, geschah dies ausnahmsweise einmal nicht anlässlich einer Wettkampfveranstaltung. Die Athleten waren vielmehr dem Ruf des Weltgymnastikverbands FIG gefolgt, der alle vier Jahre die sogenannte Weltgymnaestrada ausrichtet. Bei diesem Turnfest, das 1953 erstmals stattfand und seitdem in besagtem Rhythmus an wechselnden Orten ausgetragen wird, präsentieren die Teilnehmer sieben Tage lang turnsportliche Choreografien – und auch wenn dabei durchaus die eine oder andere Höchstleistung gezeigt wird: Punkte oder gar Preise gibt es für die Athleten nicht zu holen.

„Bei der Weltgymnaestrada geht es um die Begeisterung an der Bewegung, das Zurschaustellen der unterschiedlichen Facetten des Turnens und der Gymnastik und natürlich: um das Gemeinschaftserlebnis“, erklärt Dr. Angela Wichmann, Dozentin an der Hochschule Fresenius München und selbst aktive Gymnastin. Letzterer Aspekt hat schließlich auch das wissenschaftliche Interesse der Kulturwirtin geweckt: Sie hat dazu zwischen 2010 und 2014 ihre Doktorarbeit verfasst und sich seitdem noch in einigen weiteren Studien mit der Weltgymnaestrada-Community beschäftigt. „Mit meinen Untersuchungen möchte ich herausfinden, inwiefern und wie sich bei den Teilnehmern der Veranstaltung ein Gefühl der Zugehörigkeit entwickelt und auf was dieses Gefühl basiert. Immerhin handelt es sich bei der Weltgymnaestrada um eine Freizeitveranstaltung, die nur alle paar Jahre stattfindet“, erklärt Wichmann.

Damit unterscheide sich die Weltgymnaestrada-Gemeinschaft von anderen identitätsstiftenden Gemeinschaften wie der Familie oder dem Freundeskreis: „Die Beziehungen zu Familienmitgliedern oder Freunden sind für gewöhnlich auf Dauer gestellt und von häufig wiederkehrenden face-to-face-Interaktionen geprägt“, so Wichmann. Außerdem seien diese Gruppen im Vergleich zur Turnfest-Community viel homogener: „Die Teilnehmer der Weltgymnaestrada stammen aus ganz unterschiedlichen Ländern, Kulturkreisen und Altersgruppen. Man findet dort die 15-jährige chinesische Schülerin genauso wie die knapp 70-jährige süddeutsche Rentnerin.“

Eine teilnehmende Beobachtung bei der Weltgymnaestrada 2011 in der Schweiz bringt neue Erkenntnisse

Von dieser Heterogenität hat sich Wichmann 2011 selbst ein Bild gemacht: Um Material für ihre Doktorarbeit zu sammeln, begleitete sie damals als teilnehmende Beobachterin eine Gruppe deutscher Turnerinnen zur Weltgymnaestrada nach Lausanne. In zahlreichen Interviews ging sie vor Ort, aber auch in der Zeit vor und nach dem Event, dem Wesen der Turnfest-Gemeinschaft auf den Grund. „Die Auswertung der qualitativen Interviews und meiner Feldbeobachtungen hat schließlich gezeigt, dass die ausgewählten Probanden ein starkes Gemeinschaftsgefühl empfinden und dass dieses auf der Intensität der sozialen und sportphysischen Interaktionen während der einwöchigen Veranstaltung beruht. Die Erfahrungen in dieser Zeit sind so emotional und prägen sich so tief in das Gedächtnis ein, dass dieses Gefühl auch die vier Jahre bis zum nächsten Aufeinandertreffen überdauert“, fasst Wichmann die Ergebnisse zusammen.

Viele Teilnehmer sehen das Turnfest außerdem als eine Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen, wie eine Teilnehmerin, die Wichmann in einer ihrer Publikationen zitiert, deutlich macht: „The particular thing about the World Gymnaestrada is to be away from everyday life, a week off from job and family constraints, I can just be who I am and decide to do things spontaneously.“

Zeitlich begrenzte, intensive Interaktionen außerhalb der Alltagssphäre sind es also, die bei den Weltgymnaestrada-Teilnehmern ein starkes Zugehörigkeitsgefühl ausprägen. Aus wissenschaftlicher Sicht sind demnach nicht nur Familie oder Freundeskreis als Gemeinschaften zu verstehen, sondern eben auch im Vierjahresrhythmus zusammentreffende Freizeitturner.

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Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

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