Psychologie und Wirtschaftspsychologie

„Vorurteile lassen uns schneller handeln“

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von Redaktion, am 23.04.2014

Jeder Mensch hat Vorurteile – auch wenn das nicht jeder wahrhaben will. Denn Vorurteile erfüllen eine wichtige Funktion, wie Prof. Dr. Simon Hahnzog von der Hochschule Fresenius München weiß. Als Psychologe sieht er sich aber auch hin und wieder mit den negativen Aspekten des Phänomens konfrontiert. Teil sechs unserer Serie „Grundbegriffe der Psychologie“.

Sie sind Psychologe. Ihnen und Ihren Berufskollegen sagt man nach, dass Sie die Verhaltensweisen anderer Menschen ständig analysieren und dabei regelrecht in sie hineinschauen würden. Wahrheit oder Vorurteil?

Das stimmt natürlich. Wir Psychologen können mit einem Blick in die tiefsten Seelenabgründe blicken – deswegen reden die Menschen ja auch so ungern mit uns. Nein, mal im Ernst. Ich denke, bei uns Psychologen ist es wie in jeder anderen Berufsgruppe auch: Man eignet sich Wissen an und kennt sich dann in einem speziellen Thema besser aus als andere. Bei uns Psychologen ist dieses Thema eben der Mensch. Die Auseinandersetzung mit den psychologischen Eigenheiten der Menschen schärft natürlich die Sinne – dass man als Psychologe deswegen aber in andere hineinsehen kann, braucht niemand zu glauben.

Nicht nur den Psychologen begegnen wir mit Vorurteilen. Dasselbe Verhalten zeigen wir auch gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen. Wie kommt es überhaupt dazu? Was ist der Mechanismus, der hinter der Vorurteilsbildung steckt?

Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst einen Schritt zurücktreten. Am Anfang steht nämlich das Phänomen der Stereotypisierung. Es bedeutet, dass man einen Menschen aufgrund einzelner Merkmale einer Gruppe zuordnet. Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen: Irgendwo in Deutschland begegne ich einem Mann, der eine Lederhose trägt und ein großes Glas Bier in der Hand hält. Vermutlich werde ich bei diesem Anblick zu dem Schluss kommen, es hier mit einem waschechten Bayern zu tun zu haben. Anschließend werde ich der Person bestimmte Merkmale zuschreiben, die eigentlich die Merkmale einer Gruppe sind: Ich gehe davon aus, dass die beobachtete Person bayerisch spricht, gerne und viel Bier trinkt und des Öfteren auf Volksfesten anzutreffen ist. Das muss alles überhaupt nicht der Wahrheit entsprechen, dennoch wird auf diese Weise eben ein Stereotyp gebildet.

Wenn ich nun noch mit diesem Stereotyp eine Wertung verbinde – also beispielsweise dem vermeintlichen Bayern unterstelle, er könne bestimmte Dinge besser und andere schlechter –, dann befinde ich mich im Bereich des Vorurteils.

Resultiert aus dieser Wertung jetzt auch noch, dass ich gegenüber dem Betroffenen ein bestimmtes Verhalten an den Tag lege, dann ist die Grenze zur Diskriminierung überschritten. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Ich vermeide es, mit dem vermeintlichen Bayern eine Unterhaltung zu beginnen, da ich vermute, dass er in starkem bayerischen Dialekt spricht und ich ihn ohnehin nicht verstehen würde.

Es wäre übrigens genauso diskriminierend, wenn ich mich sehr stark darum bemühen würde, mit dem Mann ins Gespräch zu kommen, nur weil ich eine positive Einstellung gegenüber Bayern habe. Das Interview mit Prof. Hahnzog können Sie in der Nähe der Campusgelände der Hochschule Fresenius auch als Audiosequenz anhören. Einfach die App audioguideMe herunterladen und los gehts!

Vorurteile können also auch zu Diskriminierungen führen. Trotz dieses negativen Aspekts erfüllen sie aber eine wichtige Funktion. Welche?

Die Funktionalität menschlicher Verhaltensweisen in den Mittelpunkt zu stellen, ist ein ganz zentraler Ansatz in der Psychologie. Die Annahmen dahinter: Jede psychische Fähigkeit oder Kompetenz eines Menschen existiert aus einem bestimmten Grund.

Bei Vorurteilen liegt er auf der Hand: durch sie schaffe ich es, Menschen schnell einer bestimmten Gruppe zuzuordnen und mein Verhalten dementsprechend zu koordinieren. Ich kann dadurch sofort entscheiden, ob ich auf eine Person zu- oder ihr lieber aus dem Weg gehe.

Das Problem ist, dass ich dabei natürlich nicht immer richtig liege. Die Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen habe ich ja gerade deswegen, weil ich nur unzureichend informiert bin. Und so stellt sich meine Entscheidung, die Straßenseite zu wechseln, weil mir auf dem Gehweg ein tätowierter, stiernackiger Glatzkopf entgegenkommt, im Nachhinein womöglich als falsch heraus. Vielleicht ist er nämlich ein sehr netter Kerl und ein Aufeinandertreffen mit ihm wäre für mein Leben bereichernd gewesen.

Vorurteile lassen mich also nicht immer richtig handeln, dafür aber schnell. Denn die Zeit, jeden Menschen, der uns begegnet, erst einmal bis in die Grundzüge seines Charakters kennenzulernen, haben wir nicht.

Der Verfall von Konventionen, das Verschwimmen gesellschaftlicher Grenzen und die Individualisierung haben in den vergangenen Jahren dafür gesorgt, dass Menschen heute schwieriger in Kategorien einzuordnen sind als früher. Waren Vorurteile in der Vergangenheit näher an der Wahrheit dran als heute und daher auch funktionaler?

Ich denke, heute ist es auf jeden Fall schwieriger, Menschen bestimmten Gruppen zuzuordnen. Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit der S-Bahn und Ihnen gegenüber sitzt Mark Zuckerberg. Die äußerliche Erscheinung dieses Mannes – Sneaker, Kapuzenpulli und Smart Phone – würde Sie wohl kaum zu der Annahme verleiten, einen der mächtigsten Männer der Welt vor sich zu haben. Früher konnte man Menschen ihren gesellschaftlichen Status eher ansehen als heute.

Das beeinträchtigt vielleicht die Funktionsweise von Vorurteilen, führt aber wohl auch dazu, dass wir Dingen eher auf den Grund gehen und weniger oberflächlich sind.

Die meisten Menschen sind davon überzeugt, kaum oder keine Vorurteile zu haben. Anderen wird dagegen durchaus zugetraut, mit vorgefertigten Meinungen durch die Welt zu gehen. Warum ist das so?

Man kann in diesem Zusammenhang auch von einem Sonderfall des Third-Person-Effekts sprechen. Das heißt, wir schreiben bestimmte negative Verhaltensweisen und Neigungen eher anderen und weniger uns selbst zu. Das gilt für das Schummeln bei der Steuererklärung genauso wie für das Handeln nach Vorurteilen.

Aber wie wir schon festgestellt haben, besitzt jeder Mensch Vorurteile und das ist eben auch funktional – genauso wie übrigens auch der Third-Person-Effekt selbst: Die Sichtweise, dass nur die anderen sich misslich verhalten, ist selbstwertdienlich. Sich ständig die eigenen Schwächen vor Augen zu führen, kann ja durchaus belastend sein.

Grundbegriffe der Psychologie

Liebe, Angst, Kreativität, Stress – alltägliche Begriffe, deren psychologische Hintergründe oft nicht bekannt sind. Deshalb widmet sich adhibeo in den kommenden Wochen diesen Begriffen und lässt dazu Experten zu Wort kommen. Bisher erschienen:

  • Prof. Dr. Simon Hahnzog über die Liebe.
  • István Garda über den Begriff „Kreativität„.
  • Prof. Dr. Katja Mierke über den Begriff „Stress„.
  • Prof. Dr. Claudia Gerhardt über den Begriff „Glück„.
  • Dr. Fabian Christandl über den Begriff „Manipulation“.

Über den Autor

Redaktion
Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

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