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(T)Raumfabrik Hollywood

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von Matthias Nelke, am 14.03.2019

Wie und wo die Produktion misogyner Weltbilder angefochten werden kann, beleuchtet Matthias Nelke, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Fresenius in Köln, in seinem Gastbeitrag.

Dieser Artikel stammt aus dem Magazin „Kontext“, dessen aktuelle Ausgabe sich mit „Gesellschaften im Wandel“ auseinandersetzt.

Einleitung

„I have some things to say!“ Bei der 90. Verleihung der Oscars nutzte Gewinnerin Frances McDormand ihre Dankesrede dazu, das Ungleichgewicht in Hollywood anzusprechen. Jede Frau verdiene es, in ein Produzentenbüro eingeladen zu werden, um für ihr Herzensprojekt zu werben.1 Genau diese Büros der meist männlichen Entscheider wie Harvey Weinstein waren es, die in der Vergangenheit regelmäßig sexueller Nötigung und Erniedrigung Raum boten. Deutsche Medien paraphrasierten McDormand ebenso eigenwillig wie griffig mit: „Sprecht nicht über uns auf euren Partys, sondern gebt uns gute Rollen“2. Gerade diese Formulierung legt, wenn auch unabsichtlich, eine räumliche Perspektive nahe, die Partys als einen der typischen Hollywood-Schauplätze weiblicher Objektivierung vom Film als Diskursraum der #metoo-Debatte trennt. Damit trennt sie Film auch vom roten Teppich, auf dem die weibliche Hollywood-Riege bei der Verleihung der Golden Globes im Januar 2018 noch in schwarzer Abendgarderobe erschienen war, um ein Zeichen zu setzen. Der Konflikt muss woanders ausgetragen werden: im Film.

Dieser Artikel argumentiert auf Basis der Annahme, dass ein tieferer Zusammenhang besteht zwischen Filmkultur und vorherrschenden Geschlechterrollen. Eine räumliche Perspektive soll aufzeigen, dass Hollywood deshalb Austragungsort der aktuellen Sexismusdebatte ist, weil das System am Überleben bigotter Frauenbilder maßgeblich beteiligt ist. Der Titel „(T)raumfabrik“ bezieht sich dabei in überspitzter Wortverwandtschaft zum Kulturpessimismus auf die verzahnte Produktion imaginärer Weltbilder und Räume, in denen diese gelten. Gleichzeitig plädiert dieser Artikel für einen kulturoptimistischen Raumdiskurs, der diese Räume dem Zuschauer zur aktiven kritischen Reflexion öffnet. Dazu wird zunächst das aktuelle Verhältnis von Film und Gender betrachtet und im Anschluss in den postmodernen Raumdiskurs überführt.

Film und Gender

Seit Laura Mulvey mit ihrem kontroversen Essay „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ (1975) die feministische Filmwissenschaft begründete, sind Film und Hollywood beliebte Schlachtfelder der Geschlechterforschung. In ihrer psychoanalytischen Kritik des Mediums Film identifiziert Mulvey die Kamera als einen ideologischen Apparat, der bewusst einen implizit männlichen und deshalb aktiven Zuschauer heraufbeschwöre und die Frau im Film zum passiven Objekt degradiere.3 Obwohl der von Mulvey geprägte „male gaze“ noch immer zum filmwissenschaftlichen Diskurs gehört, gilt ihr Ansatz besonders aufgrund seines strikt binären Denkmusters als überholt. Dass Film immer ideologisch ist, ist in der Filmwissenschaft dagegen unstrittig.4

Die meisten Filme aus Hollywood sind noch immer deutlich männlich geprägt: Männer besetzen die meisten Rollen hinter der Kamera und stehen im Fokus davor. Laut einer Studie der San Diego State University waren nur 17 Prozent aller Positionen hinter den Kulissen der 250 einspielstärksten Hollywood-Filme 2016 von Frauen besetzt.5 Der prozentuale Frauenanteil schrumpft sogar, sieht man sich nur die Top-100 an (s. Abb. 1).6 Gleichzeitig beinhalteten nur 34 dieser Filme eine weibliche Hauptfigur, mit gleichbleibender Tendenz seit 2007.7 Laut dem Geena Davis Institute on Gender in Media reden Männer in aktuellen Filmen doppelt so oft wie Frauen und sind doppelt so lange auf der Leinwand zu sehen.8 Auch 2016 treiben Männer meist die Handlung voran. Frauen dürfen sich dafür knapp fünf Mal so oft in sexy Kleidung präsentieren.9

Mulveys Kritik am Film wirkt noch immer nach. Feministen sehen im Hollywood-System nach wie vor ein Werkzeug patriarchalischer Machtansprüche. Dabei geht es vor allem darum, dass Hollywood ein erniedrigendes Frauenbild verbreitet – auch durch die Darstellung von Männern.10 In ihrer anerkannten Definition hegemonialer Männlichkeit unterstreicht Raewyn Connell die Wichtigkeit einer „production of exemplary masculinities“11 und wie deutlich besonders Filme und Filmstars diese vorbildliche Männlichkeit verkörpern.12 So kommunizieren Filme etwa Aggressivität, Gewalt und Unabhängigkeit als akzeptables männliches, exhibitionistische Sexyness dagegen als akzeptables weibliches Verhalten. Gleichzeitig deklarieren Filme dieses Verhalten als realistisch, wodurch Zuschauer diese Erwartungen an die Realität außerhalb des Kinosaals herantragen.13 Judith Butler bezeichnet diese kontinuierliche Wiederaufführung konventionalisierten Geschlechterverhaltens, die zum Realitätsanspruch dieser dann als natürlich wahrgenommenen Praxis führen, als „performativ“14. Durch die mediale (Re)Präsentation von männlicher Dominanz und weiblicher Unterwürfigkeit als scheinbare Genderrealitäten beteiligt sich Film aktiv an ihrer Produktion und agiert damit genauso performativ wie jedes Individuum auf der Bühne des Lebens.

Der Spatial Turn als postmoderner Raumdiskurs

Die wissenschaftlichen Strömungen, die unter dem Begriff Spatial Turn gefasst werden und die Reintegration von Raum in die wissenschaftliche Praxis fordern, sind ein typisch postmoderner Diskurs. Eine dezentralisierende Agenda und ein Bestreben, binäre Strukturen zu dekonstruieren, gehören zur postmodernen Praxis, wodurch ihr räumliche Parameter eingeschrieben sind. Mit der Ablösung der Moderne ist eine „Epoche des Raumes“15 eingetreten. In der Moderne wurde Raum als statisch und gegeben betrachtet und war einer primär historischen Perspektive sozialer Verhältnisse untergeordnet. Der Spatial Turn ist eine Antwort auf diese „ontological and epistemological bias in all the human sciences“16. Er lässt sich deshalb auch anhand einer ontologischen Neuausrichtung von Raum und einer radikalen Verräumlichung von Theoriebildung nachvollziehen.

In den Texten von Michel Foucault und Henri Lefebvre erreicht der postmoderne Diskurs die Geografie, wo endgültig auch die Natürlichkeit von Raum in Frage gestellt wird.17 Beide merken den Konstruktionscharakter von Raum an und betrachten ihn erstmals als ideologisiert, dynamisch und subjektiv bedingt durch soziodemographische Faktoren wie Ethnie, Gender oder Alter. Folglich ist die kontinuierliche Reproduktion sozialer Verhältnisse und gesellschaftlicher Machtstrukturen immer gekoppelt an die Produktion von Räumen, in denen sie wirken.18 In letzter Konsequenz führt die Verschleierung dieser konstruierten Machstrukturen dazu, dass räumliche Verhältnisse als natürlich wahrgenommen werden und sich soziale Gegebenheiten dauerhaft in die Realität einschreiben:

„Die Projektion von Sozialem auf Physisches […] führt zur Objektivierung des Sozialen: der physisch objektivierte soziale Raum gerinnt am Ende zur kognitiven Struktur“19.

Als Beispiel kann hier die Rassentrennung in Amerika und Afrika dienen, die sich besonders in räumlicher Segregation niederschlug, und bis in die heutige Zeit nachwirkt, in der Stadtviertel nach wie vor als schwarze Ghettos gedacht werden. Das belegt, dass Raum im gleichen Maße nachhaltig durch die Aktivitäten produziert wird, die in ihm passieren.20

Diese unauflösliche Wechselwirkung macht Raum zu einem Schlüssel des Verständnisses sozialer Verhältnisse: „[W]here things happen is critical to knowing how and why they happen“21. Im Zuge des Spatial Turn entwickelt sich Raum zu einer Perspektive auf Gesellschaft. Eine solch dynamische Denkweise von Räumen bedeutet auch, die Position des Betrachters konsequent einzubeziehen. Subjektive Perspektiven und Standpunkte bedingen zwangsläufig die Konstruktion von Wissen im gesellschaftlichen Raum wie auch den Erkenntnisgewinn im akademischen Raumdiskurs. Das Ergebnis ist eine dynamische Gleichzeitigkeit verschiedener Raumverständnisse.22 Der Dialog dieser Interpretationen gleicht jedoch vielerorts noch dem Streit über die Deutungshoheit, was impliziert, dass versucht wird, Bedeutungen und Identitäten zu stabilisieren und mittels Grenzen hermetisch abzuriegeln.23 Als aktuelles Beispiele können hier die Versuche der AfD dienen, den deutschen Kulturraum von anderen, bspw. dem islamischen, abzugrenzen. Der postmoderne Ansatz sieht dagegen vor, die Stabilität von Räumen kontinuierlich infrage zu stellen.24

Bei Michel Foucault, Henri Lefebvre und Edward Soja, drei der entscheidenden Triebkräften hinter der Aufwertung von Räumlichkeit in den Humanwissenschaften25, finden sich drei verwandte Ansätze, diese dynamischen Räume zu navigieren. Alle haben gemeinsam, dass sie neben materiellen Räumen auch Repräsentationen dieser Räume bzw. künstliche Räume für die Produktion von Wissen und Macht verantwortlich machen.26 In ihrer jeweiligen Trialektik des Raumes werden beide um eine dritte Ebene ergänzt, auf der Realraum und Raumrepräsentation sowie die Position des Betrachters in Dialog treten. Diese Überlagerung ist konstitutiv für jede individuelle Raumvorstellung.27 Exemplarisch soll an dieser Stelle nur das auf Foucault und Lefebvre rekurrierende Konzept des Thirdspace von Edward Soja umrissen werden: Bei Soja schließt Thirdspace die materiellen Firstspaces sowie die mentalen Secondspaces ein, zu denen auch hegemoniale, dominante und naturalisierte Raumvorstellungen gehören. Soja denkt Thirdspace im Gegensatz dazu als radikal offene, alles umfassende Ebene der kontinuierlichen Reflexion über Raum und der konstanten, dekonstruktiven Kritik an modernen Denkmodellen.28 Damit ist Thirdspace ein Raum der Praxis.29 Hier wird aus Raumdiskursen ein Diskursraum.

Der Spatial Turn hat zur Prägung und Diskussion diverser räumlicher Phänomene in unterschiedlichen Disziplinen geführt, vom rechtsfreien Raum bis zum Cyberspace oder schrumpfendem Kulturraum im Zeichen der Globalisierung.30 Die folgenden beiden Kapitel zeigen ausgewählte räumliche Annäherungsversuche in Gender Studies und Filmwissenschaft auf.

Gendered Spaces

Die Gender Studies bieten reichhaltige Anhaltspunkte für die Rolle von Raum in der Konstitution von sozialen Verhältnissen und Machtstrukturen. Schon Judith Butler dachte Gender räumlich und definierte das von ihr maßgeblich geprägte Prinzip als räumliche Praxis, bei der präkodiertes Geschlechterverhalten wie Mode oder Gestus den Anschein eines stabilen Geschlechts nur „on the surface of the body“31 produzieren würde. In den Gender Studies herrscht mittlerweile Einigkeit, dass auch die konzeptuelle Teilung von Mann und Frau in einer binären Raumaufteilung verfestigt wird und das soziale Machtverhältnis zwischen Mann und Frau von Raum konstruiert wird und Raum gleichzeitig schafft.32

Die Folge sind diverse gendered spaces, in denen Geschlechterrollen mittels räumlicher Grenzen stabilisiert werden. Eines der besten Beispiele ist die Teilung zwischen dem familiären Wohnsitz als „Ort der Frau“ und dem Arbeitsplatz in der Stadt als „Ort des Mannes“, in der sich auch traditionelle Geschlechterrollen verfestigen.33 Auch die Büros mächtiger Entscheider in Hollywood lassen sich hier einreihen. Die Diskussion in den USA über die Einführung gender-neutraler Toiletten hat gezeigt, wie stark die als natürlich wahrgenommene Stabilität von Gender an die ebenfalls kulturell konstruierte Stabilität von Räumen gekoppelt ist. Um diese Räume zu öffnen, müssen die Inkohärenz von Gender wie die Instabilität von Raum akzeptiert und als etwas Positives angestrebt werden.

Mit der Postmodern Spatial Feminist Critique hat sich innerhalb der Gender Studies eine Strömung hervorgetan, die sich diese Öffnung zur Aufgabe gemacht hat und bestrebt ist, die Konzeptionalisierung stabiler Räume und das an diese gekoppelte binäre Wissensmodell Mann-Frau zu dekonstruieren.34 So plädiert etwa Teresa de Lauretis dafür, Raum innerhalb und außerhalb der flächendeckend mit Gender eingeschriebenen Macht- und Wissensstrukturen aufzubrechen. „[B]lind spots“ oder „space-off“ dieser Art koexistieren in konstanter Widersprüchlichkeit mit dem vorherrschenden Diskurs von Mann-Frau.35 Feministische Kritik bedeutet demnach, sich zwischen beiden Polen zu bewegen, oder, um es mit Sojas Worten zu sagen, Thirdspace praktisch zu erschließen.

Theorie vom Filmraum

Film gilt in mehrfacher Hinsicht als räumliche Kunst.36 In gewisser Weise wird im Filmstreifen eine lineare Zeitabfolge in einer Montage von Bildrahmen verräumlicht. In einem der ersten Filme der Geschichte schockierten die Brüder Lumière ihr Publikum mit Bildern eines Zuges, der aus der Leinwand heraus zu fahren schien und so die Grenze zwischen Filmraum und Zuschauerraum überwand, bevor diese überhaupt beschrieben worden waren. Dieses Beispiel zeigt auch, wie eng im Kino seit jeher die Produktion von Realitätseffekten mit der Produktion von Räumen verknüpft ist, in denen diese wirken. Mittlerweile ist sich die Wissenschaft einig, dass den bildenden Medien ein immer größerer Einfluss bei der Konstruktion von Vorstellungen realer Räume zukommt.37

Schon bei Foucault, Lefebvre und Soja

„durchdringen sich in der Konzeptionalisierung von Raum immer wieder die Ebenen (…) des Imaginären und des ‚Realen‘“38.

In dieser Gegenüberstellung wäre Film somit verantwortlich für die Produktion naturalisierter Secondspaces. An diesen kulturpessimistischen Ansatz lässt sich Jean Baudrillards Konzept von Hyperrealität knüpfen. In einer der radikalsten Denkversuche postmodernen Raums spricht Baudrillard gar von einer Auflösung jeder Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität in der heutigen Zeit. Abbild und Original sind indifferent geworden.39

Somit erodiert Film zunehmend die Grenze, die bei den Brüdern Lumière noch überschritten werden konnte. Baudrillards bekanntestes Beispiel ist bezeichnenderweise ein Raum aus Hollywood: Disneyland. Baudrillards Argumentation zufolge wird Disneyland als bewusste Kopie verkauft, um im Umkehrschluss den Realitätsanspruch des abgebildeten Amerika zu beweisen, der aber selbst schon immer künstlich war.40 So produziert Film – in der industriellen Lesart, die auch den Titel von Lefebvres wegweisendem Text The Production of Space (1974) prägt – unaufhörlich Räume, die Jameson in Verwandtschaft mit Baudrillard hyperspaces nennt.41 Hollywood wird zur (T)raumfabrik.

In Anlehnung an Dears „A Theory of Film-Space“ (Abb. 2) hat Fröhlich einem kulturpessimistischen Blickwinkel eine konstruktive Perspektive von Filmraum entgegengesetzt, die aufzeigen soll, wie subjektive Raumvorstellungen und Weltbilder durch Film konstruiert werden.42 Dears „verräumlichte und auf das Medium Film spezifizierte Variante eines Grundmodells von Kommunikation“43 erklärt Fröhlich wie folgt: Zu Beginn steht der Produktionsort, beeinflusst von dem ihn umgebenden realen Raum und den in diesem geltenden Machtstrukturen. Über die Produktion des filmischen Raumes wird der Filmtext, die kommunizierte Botschaft, vom Zuschauer schließlich konsumiert. Dabei meint Dears finale Position consumption in space ein „verortetes Filmsehen“44, das sich weniger auf den Kinosaal als auf die Position des Betrachters bezieht. Film- und Medienforschung sind sich einig,

„dass die Bedeutung eines Films und damit auch der filmisch dargestellten Räume von der Ausgangsposition des Betrachters abhängig ist und dass die Rezeption eines Films nicht als passives Ausgesetztsein, sondern als aktive Aneignung aufzufassen ist“45.

Indem er dem Zuschauer eine aktive Rolle zuschreibt, distanziert sich Fröhlich von der Frankfurter Schule. Aus Jamesons hyperspaces werden bei Fröhlich mediated spaces, weil der Filmzuschauer außerhalb des Kinosaals zwischen Realraum und Raumrepräsentation „vermittelt“46. Diese „dialogical relationship between seeing and living“47 impliziert der Doppelpfeil am unteren Ende von Abbildung 2.

Harvey Weinstein und James Bond – Treffen im Hyperspace

Worin liegt nun der Vorteil einer räumlichen Denkweise der Komplizenschaft von Hollywood-Filmen in der Konstruktion frauenfeindlicher Weltbilder im Kontext der #metoo-Debatte? Die Erkenntnis, dass sich die stereotype Darstellung von Männern und Frauen in Bildmedien auch auf die Toleranz von sexueller Belästigung unter beiden Geschlechtern überträgt, ist nicht neu.48 Dieses Kapitel widmet sich möglichen Synergien aus Filmraum, gendered spaces und dem Einfluss auf Weltbilder, im Zuge welcher sexuelle Belästigung von Frauen vorkommen.

Zunächst gilt es, die Räume in Fröhlichs Modell von Filmspace als gendered spaces zu denken. Es beginnt am Ausgangspunkt der filmischen Kommunikation, dem Produktionsraum, der wie alle Räume hierarchisiert ist. So gehört es beispielsweise zum Umfeld des Produktionsortes Hollywood, dass Frauen in Entscheidungspositionen weniger Vertrauen entgegengebracht bzw. weniger finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden.49 Durch Gender aufgeladene Hierarchien wirken bereits hier auf die Produktion ein. In der Folge bedingen diese Machtstrukturen die Kommunikation, allen voran die Konstruktion von Filmraum, in dem Männer häufiger Helden und Anführer, Frauen dagegen häufiger nur „eye-candy“ sind. Film kann nie nur unschuldige Spiegelung realer Geschlechterrollen sein.

„The cinematic landscape is […] an ideologically charged cultural creation whereby meanings of place and society are made, legitimized, contested and obscured”50.

Ein Beispiel: An einem Strand sucht eine Frau nach Muscheln. Sie singt. Mit dem Erwachen des Mannes unter einer nahen Palme füllt sich der Filmraum „Strand“ mit Anspannung. Als der Mann sich nähert, treibt er die Frau zwischen sich und dem Meer in die Enge, die daraufhin ein Messer zückt. Es folgt ein bezeichnender Dialog, der durch eine wohl gewählte Pause noch bedrohlicher wirkt:

Woman: „What are you doing here? Looking for shells?“
Man: „No. [Pause] I’m just looking.“

Die Szene aus James Bond — 007 jagt Dr. No (Maibaum/Young 1962, OT: Dr. No) verdeutlicht, wie die Dominanz des Mannes die Machtstruktur des Filmraums prägt, in der Männer gaffen und Frauen wie Objekte beglotzt werden. Diese Rollenverteilung eignen sich Zuschauer an, mit potenziell bleibenden Folgen auf ihre Wahrnehmung von und das Verhalten in entsprechenden Realräumen. Dass das Beispiel aus den 1960ern stammt, relativiert nicht etwa seine Relevanz, sondern unterstreicht sie noch, hat Harvey Weinstein doch als Entschuldigung für seine sexuellen Belästigungen angebracht, in den 60ern und 70ern groß geworden zu sein, „when all the rules about behavior and workplaces were different“51. Es kann angenommen werden, dass Weinstein auch später als Filmproduzent wiederholt dieser Präsentation bigotter Geschlechterrollen ausgesetzt war, sodass sie auf Dauer, um Hess-Lüttichs Formulierung aufzugreifen, „zur kognitiven Struktur [geronnen]“52.

Doch lässt sich dieses Beispiel generalisieren? In einer Studie zum Effekt filmischer Darstellung auf die Wahrnehmung von Stalking wurden 465 Frauen mit Hollywood-Inszenierungen einseitiger, obsessiver Beziehungen konfrontiert.53 Die Studie ist deshalb so aufschlussreich, weil Stalking Gucken als dominierende Raumpraxis und aggressives Sexualverhalten unter einem Term vereint. Drei Frauengruppen sahen drei verschiedene Filmsequenzen, in denen Stalking entweder nicht thematisiert, als romantischer Liebesbeweis inszeniert oder als obsessiv, bedrohlich und potenziell gewalttätig dargestellt wurde. Tatsächlich gab es keine Anhaltspunkte dafür, dass eine verharmlosende Repräsentation von Stalking generell dazu führt, dass Probandinnen im Anschluss Stalking als adäquates Verhalten und Beweis inniger Liebe akzeptierten. Unter denjenigen, die die entsprechenden Filmszenen als „realistisch“ einstuften, stieg diese Akzeptanz jedoch signifikant.54 Daraus lässt sich schließen: Filme vermitteln besonders dann bigotte Weltbilder, wenn sie erfolgreich Realräume produzieren, in denen diese wirken. Im Dialog zwischen Sehen und Leben wirken Realraum und die räumlichen Realitätsentwürfe deckungsgleich. Tun sie das nicht, erkennt der Zuschauer oder die Zuschauerin den Film als fiktiven Raum, sodass der Film im Zuge der Vermittlung zwischen Film- und Realraum keinen bleiben Eindruck hinterlässt.

An dieser Stelle hilft es, sich noch einmal den Schluss von Hopkins Zitat zu vergegenwärtigen: Film schafft Geschlechterverhältnisse im Raum und legitimiert sie, indem er ihre konstruierte Natur als Realität verschleiert.55 Gleichzeitig impliziert Hopkins aber, dass Machtstrukturen im Filmraum eben auch angefochten werden können. Dass der Film Raum aktiv schafft und der Zuschauer sich Raumvorstellung aktiv aneignet, ebnet die Grundlage für eine Interpretation des Filmraums als praktiziertem, dialogischem Thirdspace. Im Sinne einer Postmodern Spatial Feminist Critique kann im Film nicht nur nach Räumen außerhalb der Weltbilder konstituierenden Repräsentation gesucht werden – Filmemachen wird so selbst zur praktizierten Kritik. In einer der wenigen Verknüpfungen von Gender, Realräumen und Medialität hat etwa Franziska Wagner gezeigt, wie solche Zwischenräume in Filmen des Frankokanadiers Xavier Dolan geöffnet werden und wie sie ermöglichen, „mit dem Film nachzudenken“56. Mit Moonlight (2017) und American Honey (2016) hat Hollywood erst kürzlich bewiesen, dass es dazu auch in der Lage ist.

Fazit

Hollywoods Machstrukturen vor und hinter der Kamera sind hinlänglich bekannt und bestätigt. Eine räumliche Perspektive offenbart, wie filmische Hyperrealität hilft, Gender und Raum aneinander gekoppelt zu kommunizieren: Der reale Produktionsraum Hollywood bedingt den fiktiven Raum Film. Der jedoch gibt sich als Originalkopie. In der Folge legt sich diese Repräsentation über die Wahrnehmung des realen Raums durch den Zuschauer. Er oder sie handelt entsprechend und bestätigt damit die Legitimität räumlicher Machtstrukturen. So produziert und zementiert Film kontinuierlich gendered spaces.

Aber im Film ist auch die Möglichkeit beinhaltet, diese zu unterlaufen. Indem Film Raum für eine Auseinandersetzung realer und fiktiver Räume schafft, und den Zuschauer zu dieser aktiviert, lässt er sich mehr als offener Thirdspace denn als ideologischer Secondspace oder Hyperspace klassifizieren. Film als Thirdspace zu denken, erlaubt wiederum, den Raumdiskurs, der im Zuge der #metoo-Debatte über und in Büros in Hollywood geführt werden muss, an den Ort zu verlagern, an den Machtstrukturen oftmals gekoppelt sind: den Film. Passenderweise ist Film der Ort, an dem Zuschauer und Gesellschaft am effektivsten zu einem Umdenken animiert werden können. Ziel muss es sein, einen theoretischen Raumdiskurs über Gender in den praktischen Diskursraum Film zu transportieren.

Lob für farblich einheitliche Abendgarderobe wie bei der Verleihung der Golden Globes ist dagegen letztendlich eben nur Sprechen über das „kurze Schwarze“, welches wiederum ähnlich wie die „Time’s Up“-Anstecknadeln bei den Oscars kaum mehr denn „kritisches Bewusstsein als Accessoire der Saison“57 darstellt. Im Sinne von Butlers Konzeptionalisierung von Gender wird die #metoo-Debatte so nur oberflächlich geführt. Derartige modische Entscheidungen bleiben zu sehr in eingegrenzten Raumvorstellungen des weiblichen Körpers stecken, anstatt seine Stabilität infrage zu stellen. Die Instabilität von Gender muss durch Vorbilder „verkörpert“ werden. Diese könnten dann den Dialog mit hegemonialen Männer- und Frauenidealen aufnehmen. Oder, um es griffig zu formulieren: „Hollywood, gib Frauen gute Rollen!“

Quellen
1 Rolling Stone [2018].
2 Borcholte et al. [2018], o. S.; Rolling Stone [2018], o. S.; Der Westen [2018], o. S. Tatsächlich sagte McDormand: „Don’t talk to us about it at the parties tonight, invite us into your office in a couple of days“.
3 Vgl. Mulvey [1975].
4 Vgl. Dear [2000], S. 189.
5 Vgl. Women’s Media Center [2017], S. 62.
6 Vgl. Women’s Media Center [2017], S. 64.
7 Vgl. Smith/Choueiti/Pieper [2017], S. 1.
8 Vgl. Women’s Media Center [2017], S. 102.
9 Vgl. Smith/Choueiti/Pieper [2017], S. 2.
10 Vgl. Jacey [2014], S. 240.
11 Connell [1995], S. 277.
12 Vgl. Connell [1995], S. 77.
13 Vgl. Hißnauer/Klein [2002], S. 26 ff.
14 Vgl. Butler [1990], S. 173.
15 Dallmann [2009], S. 35 f.
16 Soja [2009], S. 12.
17 Vgl. Soja [2009], S. 17 ff.
18 Vgl. Warf/Arias [2009], S. 3 f.
19 Hess-Lüttich [2013], S. 33.
20 Vgl. Rendell [2000], S. 81.


21 Warf/Arias [2009], S. 1.
22 Vgl. Massey [1994], S. 3 f; Soja [2009], S. 11; Warf/Arias [2009], S. 1.
23 Vgl. Massey [1994], S. 5.
24 Vgl. ebd.
25 Vgl. Balshaw/Kennedy [2000], S. 2.
26 Vgl. Balshaw/Kennedy [2000], S. 2 f.
27 Vgl. Dallmann [2009], S. 41 ff; Soja [2009], S. 18 ff; Soja [1996], S. 8 ff.
28 Vgl. Soja [1996], S. 10 ff; vgl. Dallmann [2009], S. 43.
29 Vgl. Soja [1996], S. 107.
30 Vgl. Warf/Arias [2009], S. 4 ff, Soja [2009], S. 23 ff.
31 Butler [1990], S. 173; Hervorhebung im Original.
32 Vgl. Henke [2010], S. 27; Rendell [2000], S. 82; Massey [1994], S. 2; Massey [2000], S. 103; Ardner [2000], S. 89.
33 Vgl. Massey [2000], S. 102; Rendell [2000], S. 82.
34 Vgl. Soja [1996], S. 111 ff.
35 Vgl. de Lauretis [1987], S. 25 f.
36 Vgl. Dear [2000], S. 178.
37 Vgl. Schofield [1996], S. 334; vgl. Fröhlich [2007], S. 21.
38 Dallmann [2009], S. 47.
39 Vgl. Baudrillard [1978], S. 7 ff.
40 Vgl. Baudrillard [1978], S. 24.


41 Vgl. Siehl [2010], S. 8.
42 Vgl. Fröhlich [2007], S. 19 f.
43 Fröhlich [2007], S. 12.
44 Fröhlich [2007], S. 13.
45 Ebd.
46 Fröhlich [2007], S. 340.
47 Dear [2000], S. 193.
48 Vgl. Wood [1994]; vgl. Dill/Brown/Collins [2008].
49 Vgl. Women’s Media Center [2017], S. 70.
50 Hopkins [1994], zitiert nach Dear [2000], S. 182. 51 Weinstein [2017], zitiert nach Douthat [2017], o. S.
52 Hess-Lüttich [2013], S. 33.
53 Vgl. Lippman [2018].
54 Vgl. Lippman [2018], S. 411 f.
55 Vgl. Hopkins [1994], zitiert nach Dear [2000], S. 182.
56 Wagner [2018], S. 154.
57 Bünten [2018], 00:24:50 – 00:24:52.

Die Literatur finden Sie in der Online-Ausgabe von „Kontext – Gesellschaften im Wandel“

Über den Autor

Matthias Nelke
Matthias Nelke ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Service Center Lehre & Didaktik an der Hochschule Fresenius in Köln.

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