Gesundheit, Therapie und Soziales

Unsolidarische Selbstoptimierer?

von Redaktion, am 02.06.2016

Die Selbstoptmierungsbewegung hat derzeit enormen Zulauf: Immer mehr Deutsche nutzen digitale Hilfsmittel, um sich selbst zu vermessen und aus den gesammelten Daten entsprechende Schlüsse zu ziehen. Einige Krankenversicherungen wollen von diesem gesellschaftlichen Trend profitieren – und beginnen, Selbstoptimierer für ihr Verhalten zu belohnen. Eine bedenkliche Entwicklung, findet der Gesundheitsökonom Prof. Dr. Andreas Beivers.

Selbstoptimierung hat eine lange Tradition. Schon Frederick Winslow Taylor (1856–1915), dem Namensgeber der tayloristischen Arbeitsorganisation, wird nachgesagt, er habe auf seinen Spaziergängen nach der optimalen Schrittlänge gesucht – auf dass das Promenieren die bestmögliche Balance zwischen Entspannung und Erschöpfung mit sich bringe. Mit dem Aufkommen von Smartphones und anderen technischen Hilfsmitteln hat die Selbstoptimierung nun eine völlig neue Niveaustufe erreicht: Viele Menschen in Deutschland setzen diese Geräte mittlerweile dazu ein, vom Blutdruck über die Atemfrequenz bis hin zur Schritthäufigkeit alles an sich zu vermessen, um aus den gewonnenen Daten entsprechende Schlüsse für die Selbstverbesserung zu ziehen.

Einige Krankenversicherungen hat diese Entwicklung auf die Idee gebracht, jene Selbstoptimierer für ihr Verhalten zu belohnen. Seit dem Jahr 2016 ist es zum Beispiel deutschen Kunden der Generali Versicherungen möglich, ein sogenanntes „Vitality-Konto“ einzurichten: Über eine App kann der Versicherte seine sportlichen Aktivitäten oder seine ausgewogene Ernährung – kurzum: seine gesunde Lebensweise – dokumentieren. Im Gegenzug werden ihm dafür auf seinem Konto Punkte gutgeschrieben, die sich ihrerseits wieder in Gutscheine und Vergünstigungen umtauschen lassen.

Seit Bismarck ist das Solidarprinzip im deutschen Gesundheitswesen verankert – sind seine Tage gezählt?

In einem Kommentar für das Online-Fachmagazin Bibliomed-Manager setzt sich Prof. Dr. Andreas Beivers, Studiendekan Management und Ökonomie im Gesundheitswesen an der Hochschule Fresenius München, kritisch mit diesem Ansatz auseinander. Für ihn rüttelt er an einer Säule des deutschen Versicherungswesens. Gegenüber adhibeo erklärt Beivers: „Seit dem Aufkommen des modernen Gesundheitssystems im ausgehenden 19. Jahrhundert ist das Solidarprinzip dort zentral verankert. Bei der damals von Bismarck eingeführten Sozialversicherung war klar: Viele tragen die Kosten für einige wenige, die aus welchen Gründen auch immer von sozialer Verelendung bedroht sind – wohl wissend, dass auch sie vor einem solchen Schicksal nicht gefeit sind.“

Dieser Gedanke habe sich als Leitmotiv bei den meisten Versicherern durchgesetzt. Nun werde es durch die Selbstoptimierungsbewegung und ihre Würdigung von Seiten einiger Versicherungen in Frage gestellt: „Man darf doch berechtigterweise daran zweifeln, ob die Selbstoptimierer überhaupt Lust auf solidarische Versichertengemeinschaften haben“, findet Beivers.

Sollte die Bewegung jedenfalls weiter Zulauf haben und sollten andere Anbieter dem Beispiel der Generali folgen, hält er „amerikanische Verhältnisse“ in Deutschland nicht mehr für undenkbar: „Wenn sich die Solidargemeinschaften im Gesundheitsbereich auflösen, ist es nicht mehr weit hin zu einer vollständigen Privatisierung des Gesundheitssystems. Sozial Schwächere fallen dann ganz schnell durch das Raster.“

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Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

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