Psychologie und Wirtschaftspsychologie
Wirtschaft und Management
Mehr Freizeit – mehr Zeitdruck?
von Redaktion, am 09.08.2013
Psychologie und Wirtschaftspsychologie
Wirtschaft und Management
von Redaktion, am 09.08.2013
Wir haben heute viel mehr Freizeit. Und trotzdem wird unser Leben immer schneller. Diesen Eindruck haben wir, weil wir ständig Entscheidungen treffen müssen. Wo wir früher den Zwängen der Natur oder der Tradition unterworfen waren, stehen wir heute vor der Wahl. In einer wirtschaftspsychologischen Bachelorarbeit, die an der Hochschule Fresenius Hamburg erschienen ist, wird deutlich, dass vor allem Studierende mit dieser Situation nicht zurechtkommen.
Versetzen wir uns zurück in das ländliche Bayern des 19. Jahrhunderts, also in jene Zeit, über die Oskar Maria Graf in seinem autobiografischen Roman „Das Leben meiner Mutter“ so detailliert berichtet. Das Leben, das darin beschrieben wird, ist hart: Im Sommer wird bei Sonnenaufgang aufgestanden. Die Männer, sowie die körperlich reiferen Söhne, machen sich auf, um die Felder zu bestellen. Die Frauen bleiben auf dem Hof, kümmern sich um die Tiere, verarbeiten die Ernte weiter und bereiten das Essen zu. Diese Arbeiten sind tagesfüllend. Erst bei Sonnenuntergang werden sie eingestellt, weil die Dunkelheit ein Weitermachen verhindert.
Ohne technische Hilfsmittel, die damals noch nicht erfunden oder nicht bis in den ländlichen Raum vorgedrungen waren, würden sich die Menschen eben „an den Rhythmen der Natur“ orientieren, schreibt Laura Roschewitz, Absolventin der HS Fresenius Hamburg, in ihrer Bachelorarbeit. Roschewitz hat sich darin mit dem Thema „Entschleunigung“ auseinandergesetzt. In der theoretischen Einführung der Arbeit versucht sie deutlich zu machen, warum wir heute überhaupt den Wunsch nach Entschleunigung verspüren – haben wir doch eigentlich viel mehr Freizeit als die Protagonisten in „Das Leben meiner Mutter“. Denn damals, Mitte des 19. Jahrhunderts, arbeitete man in Deutschland durchschnittlich 80 bis 85 Stunden pro Woche.
Dennoch fühlte sich das Leben damals wohl langsamer an – auch weil weniger Entscheidungen getroffen werden mussten. Man richtete sich nach der Natur, die eben „ihre Zeit brauchte“, formuliert es Roschewitz. Auch die zweite wichtige Determinante im Leben der Menschen nahm ihnen Entscheidungen ab: die Tradition. Oskar Maria Graf veranschaulicht deren unerbittliche Kraft, indem er die Verzweiflung seiner Mutter schildert, als diese schon in jungen Jahren mit einem fast Fremden verheiratet wird.
Natur und Tradition treffen also die Entscheidungen für die Menschen im 19. Jahrhundert. Heute gestaltet sich das anders. Technische Errungenschaften lassen Arbeits- und Konsummöglichkeiten zu, die völlig unabhängig sind von natürlichen Gegebenheiten, feste traditionelle Strukturen wurden längst aufgebrochen und scheinen in ihrer Wirkungskraft abgeschwächt. So können wir heute einigermaßen frei aus dem „riesigen Angebot an Berufen, Freizeitaktivitäten, Lebenspartnern und vielem mehr“ auswählen, erklärt Roschewitz in ihrer Thesis. Täglich werden uns dadurch aber neue Entscheidungen abverlangt.
„Die wissenschaftliche Literatur zum Thema lässt den Schluss zu, dass die Frequenz der Entscheidungssituationen heute im Vergleich zu früher deutlich erhöht ist“, sagt Roschewitz. Das sei auch die Erklärung für ein Paradoxon, das sie in ihrer Arbeit behandelt: Trotz des Anstiegs an Freizeit und des drastischen Rückgangs der durchschnittlichen Arbeitszeit kommt es nicht dazu, „dass die Menschen (…) weniger Zeitdruck empfinden“. Im Gegenteil: Studien belegen, dass das Leben heute zunehmend als sehr temporeich wahrgenommen wird. Damit kommen einige Personen nicht zurecht: Der Anstieg von psychischen Erschöpfungs- erscheinungen wie Burnout sei teilweise darauf zurückzuführen, heißt es in der Bachelorarbeit.
Auch unter deutschen Studierenden ist dieser Anstieg zu beobachten. In Zeiten der Lebenslaufoptimierung wird eben auf Auszeiten und Erholungsphasen lieber verzichtet – zu Lasten der psychischen Gesundheit. Dabei würden heute viele Unternehmen den Wunsch, sich ein wenig Zeit für sich selbst zu nehmen, durchaus respektieren, erzählt Laura Roschewitz: „Ich habe während des Studiums ein Urlaubssemester eingelegt und das kam in Gesprächen mit Unternehmensvertretern eigentlich immer gut an.“
Darüber möchte die Wirtschaftspsychologin nun auch ihre nachrückenden Kommilitonen informieren. Denn unter ihnen befinden sich viele, die ebenfalls enormen Zeitdruck empfinden, wie aus den Ergebnissen ihrer Umfrage hervorgeht. Für ihre Bachelorarbeit hatte Roschewitz knapp 600 Personen befragt, rund die Hälfte davon war zum Zeitpunkt der Erhebung an einer Hochschule eingeschrieben. „Die Auswertung der Fragebögen ergab, dass die Studierenden einen höheren zeitlichen Druck wahrnehmen und sich stärker nach Entschleunigung sehnen als Berufstätige“, berichtet die 26-Jährige. Das sei ein durchaus ernstzunehmender Befund – „vor allem, wenn man die gestiegene Anzahl der unter Burnout leidenden Studierenden betrachtet.“
Wie kann man dem entgegenwirken? Die Ergebnisse der Bachelorarbeit liefern hier eine mögliche Antwort: Laut der Studie leiden Personen, die das Gefühl haben, über ihr Leben selbst bestimmen zu können, weniger unter Zeitdruck. Dieses Gefühl müsse man den Studierenden vermitteln, fordert Roschewitz. Dann bleibt allerdings noch das Problem, sich zwischen einer Vielzahl von Optionen entscheiden zu müssen – was eigentlich wieder zu stärkerem Zeitdruck führen sollte. Erneut ein Paradoxon in der Entschleunigungsdiskussion.
Resl Graf, Mutter von Oskar Maria, konnte einst nicht darüber bestimmen, wen sie ehelichen würde. Ob sie ihr Leben als beschleunigt oder entschleunigt empfunden hat, ist nicht überliefert. Dass diese Entscheidungsunfreiheit sie unglücklich machte, wird in „Das Leben meiner Mutter“ jedoch ziemlich deutlich.
Redaktion
Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.
bitte melden Sie sich über kontakt@roschewitz.com
MFG
Laura Roschewitz
Hallo Frau Roschewitz, ich beschäftige mich ebenfalls mit dem Thema Entschleunigung in meiner Masterarbeit. Mich würde interessieren, wie Sie den Begriff Entschleunigung wissenschaftlich definiert haben bzw. welche Literatur Sie herangezogen haben? Ist es möglich, Sie per E-Mail zu kontaktieren? LG aus Österreich, V. Winter
Liebe Anita,
lassen Sie uns darüber gerne in Kontakt kommen.
Haben Sie eine Emailadresse, über die ich Sie erreichen kann?
Dann können wir da gerne etwas persönlicher drüber kommunizieren.
Viele Grüße,
Laura
Hallo Frau Roschewitz,
besteht die Möglichkeit die gesamte Bachelorarbeit zu lesen?
Herzliche Grüsse,
Anita A.
Hallo Jan Zeil,
In der Bachelorarbeit ging es nicht um einen Vergleich der Arbeit von heute und früher. Dieser diente lediglich der Veranschaulichung. Die genannten Themen wie „Erfolgsdruck“ und „Erwartungen“ spielen sowohl in der theoretischen Bearbeitung der Arbeit als auch im empirischen Teil eine Rolle, jedoch konnte dies nicht im Detail hier wiedergegeben werden.
Sollte Interesse vorhanden sein, kann ich die BA gerne zur Verfügung stellen.
Viele Grüße und danke für das Interesse an meinem Thema.
Laura
Intressante Bachelorarbeit, was mir fehlt ist sind Begriffe wie Erfolgsdruck, Erwartungen – mehr Möglichkeiten gibt es bestimmt, aber ich glaube ein Grund dafür, dass die so schwer fallen ist nicht zuletzt: Erfolg wird Erwartet und Misserfolg wird verstärkt auf das Individuum zurückgeführt. Natur und „Ich kann nicht“ gelten weniger. Man lebt sehr stark in dem Gefühl viel zu verlieren zu haben durch jede „falsche“ Entscheidung.
Zudem, ich denke es ist schwer Arbeit früher mit der heutigen zu vergleichen. Sie lässt sich nicht wirklich in Stunden pro Woche aufrechnen, weil wie im Artikel ja auch klar gesagt, Naturverhältnisse, Licht-Dunkelheit, das Wetter usw. dafür sorgten das manchmal garkeine Möglichkeit zu Arbeiten da war, trotz der Notwendigkeit. Auch müsste man ja dazu noch die Lebensqualität/erwartung in den Vergleich hineinnehmen, und wie intensiv die Arbeit war und ist – beides schwer zu erheben. Ich glaube der als erhöht empfundene Zeitdruck ist auch darauf zurückzuführen das heute oft mehr intensive Arbeit in kürzerer Zeit gemacht wird.