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Mehr als nur Beschäftigung

von Redaktion, am 18.09.2013

Trotz einer fortschreitenden Akademisierung genießt die Ergotherapie in Deutschland noch nicht den Stellenwert, den sie verdient. Man solle sich hier Japan zum Vorbild nehmen, fordert Sandra Leineweber, Studentin der Ergotherapie an der Hochschule Fresenius Idstein. Während eines Aufenthalts an der University of Health and Welfare in Takasaki ist die 21-Jährige mit dem dortigen Behandlungssystem in Berührung gekommen – und hat es anschließend mit dem deutschen verglichen. Im Interview spricht Leineweber, die sich aktiv im Deutschen Verband der Ergotherapeuten engagiert, über die Ergebnisse dieser Arbeit. 

Was hat Sie veranlasst, die Ergotherapie im Kontext der Länder Deutschland und Japan zu vergleichen?

Auf diese Idee kam ich im Jahr 2012, als ich im Rahmen eines studentischen Austauschprogramms in Japan zu Besuch war. Die Hochschule Fresenius Idstein richtet das Programm zusammen mit der University of Health and Welfare in Takasaki für Studierende der Ergotherapie aus.

Welche Erfahrungen haben Sie für sich und die Ergotherapie in Deutschland aus Japan mitnehmen können?

Für mich persönlich war natürlich das Kennenlernen der japanischen Kultur eine besondere Erfahrung. Zum Beispiel hatte die gesamte deutsche Gruppe die Möglichkeit, einen Kimono zu tragen – was in der Regel nur zu festlichen Anlässen getan wird.

Im fachlichen Bereich der Ergotherapie war es erstaunlich zu sehen, dass sowohl der Partnerschule als auch vielen Einrichtungen, wie Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen, Räume und Geräte zum Training der Aktivitäten des täglichen Lebens zur Verfügung stehen – das kannte ich aus Deutschland bisher wenig bis gar nicht. Dazu zählen beispielsweise realistisch nachgebaute Räume wie Esszimmer zum Üben des Essens im Sitzen auf dem Boden, Badezimmer mit allen Sanitäreinrichtungen inklusive Waschmaschinen oder auch Fahrzeugsimulatoren.

Während hierzulande nur wenige eine Vorstellung von Ergotherapie haben, ist diese im Ausland eine etablierte Therapieform. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Ein wichtiger Bestandteil zur Steigerung des Bekanntheitsgrades ist meiner Meinung nach die Akademisierung der Ergotherapie. Durch diesen Schritt ist es möglich, mithilfe von Studien die Wirksamkeit der Therapieform zu untermauern und ihre Berechtigung zu begründen. In Japan ist das Studium der Ergotherapie seit 1963 selbstverständlich und ist neben der ersten Akademisierungsstufe des Bachelor of Science, auch als Master of Science fest in der japanischen Bildungslandschaft verankert. Die Akademisierung in Deutschland blickt nun zwar auf eine bereits 15jährige Tradition zurück – die erste Hochschule, die diesen Prozess unterstütze, war ja die Hochschule Fresenius Idstein im Jahr 1998 –, dennoch ist noch immer von Pionieren zu sprechen, wenn man an studierte Ergotherapeuten denkt.

Auffällig ist außerdem, dass in anderen Ländern, wie beispielsweise Japan oder auch der Schweiz, die Frage nach einer Akademisierung bereits abgeschlossen ist. Die Ausbildung der Ergotherapeuten erfolgt dort ausschließlich auf Hochschulebene.

Können Sie uns in Ihren eigenen Worten die Ergotherapie und ihren Stellenwert in den beiden Ländern beschreiben?

Wenn man die Ergotherapie erklären möchte, ist es zunächst wichtig darauf hinzuweisen, dass sie auf medizinischen und sozialwissenschaftlichen Grundlagen beruht. Diese Therapie unterstützt Menschen jeden Alters bei dem Erhalt, der Verbesserung und der Wiederherstellung verlorener, gestörter oder noch nicht erworbener Funktionen der Motorik, der Sensorik, der Psyche und der Kognition. Ziel ist es, die Handlungsfähigkeit eines Menschen zu erhalten beziehungsweise wiederherzustellen. Dies geschieht in den Bereichen der Akutversorgung und der Rehabilitation, aber auch der Prävention und der Gesundheitsförderung.

In Deutschland wird die Ergotherapie häufig noch als eine Therapie angesehen, die sich ausschließlich handwerklicher Medien, wie beispielsweise Seide, bedient. In unserem Berufsbild geht es vorrangig darum, den Patienten individuell und kompetent dabei zu unterstützen, seine Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen – das betrifft die Bereiche der Selbstversorgung, der Produktivität und der Freizeit. Leider ist das noch immer zu wenig bekannt.

Was genau kann „Handlungsfähigkeit“ hier bedeuten? Können Sie Beispiele geben?

Für den 87-Jährigen ist das zum Beispiel der Erhalt des persönlichen Wohnraums. Hier sorgt der Ergotherapeut für die ideale Wohnraumanpassung und beispielsweise das Training zur Sturzprophylaxe. Für den 21-Jährigen, der sich bei einem Motorradunfall verletzt hat, geht es hingegen um die Fortführung der begonnenen Ausbildung. In diesem Fall begleitet der Ergotherapeut ihn in die Ausbildungsstätte, um das Arbeitsumfeld gegebenenfalls zu adaptieren und den Vorgesetzten sowie die Kollegen im Umgang mit dem nun leistungsgewandelten Azubi zu schulen. Und schließlich kann der Patient auch ein 5-jähriges Kindergartenkind sein, welches trotz immenser Aufmerksamkeitsdefizite mit der Gruppe von Freunden im September eingeschult werden möchte. Wobei dem Ergotherapeuten die Aufgabe zukommt, im Einzel- sowie im Gruppensetting die spezifischen kindlichen Ressourcen zu fördern, um die Aufmerksamkeit für die Teilnahme an einem Schulunterricht zu ermöglichen. Die Tatsache, dass Ergotherapie vor allem erst im akuten oder kurativen Versorgungsmodell den Menschen begegnet, erklärt den teils unpopulären Charakter dieses Berufsbildes. Zunehmend jedoch wird Ergotherapie auch im präventiven Setting zu finden sein und den Stellenwert aufgrund des demographischen Wandels weiterhin ausbauen.

In Japan hat die Ergotherapie einen vergleichsweise besseren Ruf.

Stimmt. Im Vergleich zu Deutschland ist das Berufsbild der Ergotherapie in Japan wesentlich populärer. Bedingt durch die klare Gemeinwesenorientierung in der japanischen Bevölkerung gehört das Berufsbild ganz selbstverständlich zum Alltag der Menschen. Dieser Bereich steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen, wird sich jedoch vermehrt hinsichtlich demografischer Problemstellungen, wie zum Beispiel „Zuhause altern“, „Generationsübergreifend Lernen“, „Gesund altern in Betrieben“ oder „Miteinander pflegen“ auch hierzulande entwickeln und sichtbarer positionieren.

Worin unterscheidet sich die Ergotherapie in den beiden Ländern hauptsächlich?

In der Theorie unterscheidet sich die Ergotherapie vor allem im Einsatz von ergotherapeutischen Handlungsmodellen. Dies sind theoretische Konstrukte, die den Berufsangehörigen Struktur und Anleitung sowie enthaltene Testmaterialien oder Assessments bieten. Mit dem Modell der Handlungsfähigkeit, dem sogenannten Bieler Modell, dem „Canadian Model of Occupational Performance“ oder dem „Model of Human Occupation“ beispielsweise werden Klienten in Deutschland ganzheitlich und systematisch erfasst. Daten des Klienten werden standardisiert aufgenommen und in das entsprechende Modell eingeordnet. Dieser Prozess findet in Japan so nicht statt. Innerhalb der Therapie werden in Japan weiterhin selten Gruppentherapien angeboten. In Deutschland hingegen ist die Gruppentherapie eine etablierte Sozialform. Dies ist vor allem auf die stark unterschiedlichen kulturellen Strukturen zurückzuführen. Als Therapiematerial kommt in Japan zusätzlich zu handwerklichen Themen, wie zum Beispiel Origami, häufig modernste Technik in Form von Fahrsimulatoren oder „ADL-Simulatoren“ zum Einsatz. Dies wird in Deutschland ebenfalls verwendet, jedoch steht diese Technik bisher nur wenigen Einrichtungen zur Verfügung.

Was können die beiden Länder jeweils voneinander lernen?

Ich denke Japan kann im Bereich der Zusammenarbeit im interdisziplinären Team noch optimieren, da sehr selten Absprachen zwischen den Professionen stattfinden. Im Gegensatz dazu könnte Deutschland bei den Therapiematerialien noch von Japan lernen. Diese könnten, wie oben beschrieben, noch modernisiert werden. Hierbei wäre allerdings die Frage der Finanzierung zu klären.

Was wünschen Sie sich als angehende Ergotherapeutin für die Entwicklung des Fachs?

Häufig wird das Berufsbild der Ergotherapie auf die handwerklichen Medien reduziert, die scheinbar ohne Zielstellung oder sinnvollem therapeutischen Outcome dem Klienten zum reinen Zeitvertreib angeboten werden. Dies resultiert nachvollziehbar an der bis 1999 geltenden Berufsbezeichnung „Beschäftigungstherapeut“. Nun sind wir jedoch seit 1996 mit diesem Berufsbild im Prozess der Akademisierung und können anhand von Forschungsergebnissen aufzeigen, dass der Medieneinsatz – sowohl mit bekannten Medien wie Ton oder Holzarbeiten, aber auch mit neuzeitlichen Tools wie iPads oder Wii – einen großen Effekt auf die Handlungsfähigkeit der Klienten hat. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass Ergotherapeuten noch deutlicher als anerkannte Partner medizinischer Berufsangehöriger, Kostenträger, Unternehmen und Patienten angesehen werden, um im präventiven und rehabilitativen Bereich interdisziplinär zum Wohle des Klienten noch effektiver auf ein bestmögliches Ergebnis hinzuarbeiten.

Über den Autor

Redaktion
Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

2 Kommentare
  1. Franzi Heine sagte:

    Danke für die Informationen zur Ergotherapie. Meine Oma bekommt jede Woche Besuch von einer Ergotherapeutin, seitdem sie einen Schlaganfall hatte. Das mit den Geräten zum Training von Alltagsaktivitäten wäre echt gut.
    LG

  2. Jan Zeil sagte:

    http://www.iol.co.za/scitech/technology/japan-working-itself-to-an-early-grave-1.353390#.UjmKzNLwnm4

    In Japan arbeiten sich regelmäßig Menschen zu Tode – das Land liegt auf Platz 5 in der internationalen Rangliste Selbstmordraten – mag ein Grund dafür sein, dass mehr Wert auf gut ausgestattete Ergotherapie gelegt wird. Ob man viel von deren Systemen übernehmen sollte? naja… Auch ist eine Frage welchen „Outcome“ man erzielen möchte und was als „gesund“ definiert wird – das Deutsche Therapiesystem folgt im großen und ganzen einem humanistischen Menschenbild, es ist Ergebnis-offen. Ich könnte mir vorstellen, dass das in Japan mit seiner extremen Leistungsorientierung anders ist. Soll eine Therapie einen Menschen im gesamten längerfristig stabilisieren? Oder nur „handlungsfähig“ machen bis er irgendwann erneut zusammenbricht? Dass Wii-Computerspiele und Fahrsimulationen der psychischen und physischen Gesundheit zuträglich sind werden hierzulande viele bestreiten.

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