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„Mama, was ist Bilingualismus?“ – „Ask your dad!“. Ein Interview zum Thema Mehrsprachigkeit.

Jacob Ammentorp Lund/iStock

von Redaktion, am 30.04.2014

Obwohl mittlerweile fast jedes vierte Kind in Deutschland mit mehr als einer Sprache aufwächst, ranken sich noch immer viele Mythen und Unsicherheiten um den Begriff „Bilingualismus“. Kinder könnten sich immer nur eine Sprache nach der anderen aneignen, heißt es. Das gleichzeitige Erlernen zweier Sprachen führe zu verminderten Bildungschancen und erschwere die Identitätsentwicklung des Kindes…

Eine mögliche Definition des Begriffs „Bilingualismus“, der häufig synonym für den Begriff „Mehrsprachigkeit“ verwendet wird, lautet: Mehrsprachig ist, wer

„in mehr als einer Sprache entsprechend den spezifischen Erfordernissen kommunizieren kann und sein tägliches Leben in mehr als einer Sprache erlebt.“

Sicher ist, dass falsche Vorurteile den Prozess der Mehrsprachigkeit erschweren, ebenso wie die mangelnde Akzeptanz für die jeweils andere Sprache: Sprechen und mischen Kinder Deutsch und Englisch, wird das toleriert und als sympathisch empfunden. Sprechen und mischen sich beispielsweise Deutsch und Türkisch, stören sich viele daran.

Maike Gumpert, Logopädin und Dozentin im Fachbereich Gesundheit & Soziales an der Hochschule Fresenius Idstein, und ihr Team klären über diese Mythen und die vielen Chancen der Mehrsprachigkeit auf.

Mit der Aktion „Mehrsprachig aufwachsen = Mehr Chancen?!“ war Gumpert gemeinsam mit Studierenden im März dieses Jahres in einem Kindergarten in Idstein zu Besuch und beriet Eltern, Kinder und Erzieher. Im Interview berichtet sie auch von den Erfahrungen, die sie dort gemacht hat.

Welche sind die häufigsten Mythen über Mehrsprachigkeit und wie erklären Sie sich diese?

Ein verbreiteter Mythos ist, dass ein Mensch entweder eine Sprache perfekt beherrschen kann, oder – wenn er mehrere Sprachen spricht – diese dann nur unvollkommen spricht. Tatsächlich gibt es aber auch bei einsprachig deutschen Sprechern beispielsweise Wortschatzunterschiede um viele tausend Wörter, je nachdem welches Hobby man hat oder in welchem Beruf man arbeitet. Kennen Sie zum Beispiel einen Sappelstiel? Nein? Sprechen Sie jetzt nicht perfekt Deutsch, weil Sie dieses forstwirtschaftliche Werkzeug nicht kennen? Bei mehrsprachigen Sprechern ist außerdem häufig eine „Arbeitsteilung“ der Sprachen zu beobachten, das heißt in Sprache A können sie sich über Alltagsdinge verständigen, in Sprache B über ihren Beruf.

Ein weiterer Mythos ist, dass es für die Identitätsentwicklung eines Kindes wichtig ist, dass es zunächst nur eine Sprache lernt. Aber auch Einsprachige haben mehrere Identitäten entsprechend ihrer sozialen Netzwerke. Mehrsprachigkeit führt nicht zu einer Persönlichkeitsstörung!

Entsprechend müssen Kinder auch nicht erst eine Sprache vollständig erwerben, bevor sie eine zweite Sprache lernen können. Studien zum Erwerb zweier Sprachen von Geburt an widerlegen diesen Mythos.

Bei Eltern, Erziehern und Kinderärzten ist der Mythos verbreitet, dass das Mischen von Sprachen das Anzeichen eines Defizits ist und auf Inkompetenz und/oder eine mangelnde Identifizierung mit der Sprechergemeinschaft hindeutet. Hier zeigt die aktuelle Forschung ganz eindeutig, dass Sprachmischungen zum natürlichen Repertoire mehrsprachiger Sprecher und zu unserem Alltag gehören. Wenn ich zum Beispiel erzähle, dass ich in der Lounge einen Latte Macchiato trinke, habe ich auch drei Sprachen gemischt.

Ganz wichtig ist jedoch, dass nicht-deutschsprachige Eltern ihren Kindern das Deutsche nicht beibringen, indem sie Deutsch zur Familiensprache machen: Eltern, die das Deutsche nicht gut beherrschen, können ihren Kindern kein geeignetes Sprachmodell für die Grammatik oder einen variantenreichen Wortschatz sein. Die Eltern sollten die Sprache mit dem Kind sprechen, die sie am besten beherrschen und in der sie sich am wohlsten fühlen. Trotzdem haben sie eine andere wichtige Vorbildfunktion beim Deutschlernen: Sie können ihrem Kind signalisieren, dass Mehrsprachigkeit wertvoll ist und alle Sprachen wichtig sind. Hierbei können Eltern selbst Vorbild sein, indem sie ebenfalls Deutsch lernen und Interesse für die sprachlichen Fortschritte des Kindes in jeder Sprache zeigen.

Viele Mythen erweisen sich also eindeutig als falsch: Welche Chancen bietet Mehrsprachigkeit?

Diverse Vorteile werden wissenschaftlich untersucht und diskutiert. So wurde beispielsweise angenommen, dass mehrsprachige Sprecher schneller lesen und schreiben lernen, da sie leichter die Beziehung von Buchstaben und Lauten herstellen können. Sie sollen auch pragmatisch-kommunikativ sensitiver sein, da sie sich besser darauf einstellen können, was ein Zuhörer braucht. Es wurden außerdem der leichtere Zugang zu weiteren Sprachen und eine allgemein höhere Kreativität diskutiert.

Letztendlich zeigt sich über unterschiedliche Studien hinweg lediglich, dass mehrsprachige Kinder im Vorteil sind, vor allem bei Aufgaben, die einen hohen Grad an Aufmerksamkeitskontrolle erfordern, wenn es zum Beispiel um das Ausblenden irrelevanter Information geht. Die wissenschaftliche Begründung hierfür ist, dass mehrsprachige Kinder darin geübt sind, mentale Prozesse – wie beispielsweise ihre zweite Sprache – zu unterdrücken. Diese Fähigkeit können sie auf andere kognitive Bereiche übertragen.

Meist sind solche Ergebnisse aber nicht der Grund dafür, ein Kind mehrsprachig zu erziehen. Die Vorteile muss man häufig viel pragmatischer sehen: Die Sprache der Familie zu sprechen bedeutet, ein Teil dieser Familie zu sein, sich mit den Großeltern, Tanten, Neffen austauschen zu können und auch Anteil an der Familienkultur zu haben. Integration und Zugehörigkeit sind daher die wesentlichen und unmittelbaren Vorteile.

Wie lassen sich die Chancen der Mehrsprachigkeit wissenschaftlich belegen?

Was wir brauchen, sind vor allem größer angelegte Studien. Die meisten Untersuchungen zum Thema Mehrsprachigkeit beziehen sich auf wenige Einzelfälle. Da jedoch kaum ein mehrsprachiges Kind dem anderen gleicht – unter anderem im Hinblick auf die Sprachkombination, die Qualität und Quantität des sprachlichen Angebots in der jeweiligen Sprache, den Zeitpunkt, an dem das Kind die Sprache zu lernen beginnt –, steht die Forschung oft noch am Anfang.

Wie ist der richtige Umgang mit Mehrsprachigkeit? Was raten Sie den Eltern und Erziehern? Was ist nötig, um den Erwerb mehrerer Sprachen zu unterstützen?

Ein wichtiger Punkt ist, dass die Eltern mit ihrem Kind in ihrer Muttersprache sprechen beziehungsweise in der Sprache, die sie am besten beherrschen und in der sie sich am wohlsten fühlen. Außerdem ist es wichtig, dass die Sprachen häufig genug angeboten werden. Eltern können zum Beispiel Alltagshandlungen, wie das Tischdecken oder Einkaufen, sprachlich begleiten.

Um die deutsche Sprache beispielsweise als zweite Sprache zu lernen, ist es wichtig, dass das Kind regelmäßig in die Kita geht. Sprachen lernen Kinder am besten durch regelmäßigen Kontakt mit anderen Kindern oder Erwachsenen in natürlichen Kommunikationssituationen. Wollen die Eltern, dass ihr Kind in allen Sprachen zu Hause ist, bedarf es einer passenden sprachlichen Umgebung und Anregung. Die Eltern können entsprechende Sprachanreize und Sprechanlässe für jede Sprache schaffen, indem sie das Kind mit anderen Kindern verabreden, in ihr Heimatland verreisen, an Vorlesenachmittagen in der Bibliothek teilnehmen, in der jeweiligen Sprache vorlesen etc.

Es muss für das Kind also eine wirkliche Notwendigkeit und damit auch das Bedürfnis bestehen, diese Sprache in konkreten Situationen zu benutzen. Entsprechend sollten alle Sprachen dem Kind mit gleicher Zuwendung nahegebracht werden. Eine Schwierigkeit für Eltern ist sicher, konsequent am Ball zu bleiben, wenn das Kind beispielweise seit dem Eintritt in den Kindergarten mehr und mehr auf Deutsch antwortet und die nicht-deutsche Sprache für das Kind in den Hintergrund rückt. Auch hier gilt es wieder, das oftmals unbewusste Bedürfnis zu wecken und zu erhalten, diese Sprache im Alltag anzuwenden.

Warum wird die Mischung von Deutsch-Englisch oder Deutsch-Französisch als angenehmer empfunden als die Mischung Deutsch-Türkisch oder Deutsch-Russisch?

Dabei handelt es sich um ein verbreitetes Vorurteil beziehungsweise um eine Form gesellschaftlicher Doppelmoral. Das Sprechen von gesellschaftlich prestigeträchtigen Sprachen wie Englisch oder Französisch wird als positiv empfunden. Man verbindet hiermit schulischen oder beruflichen Erfolg in einer globalisierten Welt. So ist Englisch in vielen internationalen Unternehmen die Verhandlungssprache. Türkisch oder Kroatisch wird mit solchen Vorteilen nicht assoziiert. Hiermit werden oft nur mögliche negative Aspekte der Migration in Verbindung gebracht wie Schulversagen, Arbeitslosigkeit, soziale Auffälligkeiten oder ähnliches. Dass diese Punkte jedoch nicht mit der Mehrsprachigkeit, sondern eher mit dem sozio-ökonomischen Status in Verbindung gebracht werden müssen, wird oft nicht berücksichtigt.

Sind Sie selbst mehrsprachig aufgewachsen? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Ich bin selbst nicht mehrsprachig aufgewachsen, habe aber zwischenzeitlich vier Sprachen gesprochen. Leider musste ich auch die Erfahrung machen, dass sich Sprachen nur durch den regelmäßigen Gebrauch im Kontakt mit anderen Sprechern der Sprache erhalten lassen. Hier trifft der Spruch „use it or loose it“ leider zu.

In Anbetracht der sich globalisierenden Welt ist anzunehmen, dass Mehrsprachigkeit immer mehr zur Norm wird. Warum tun wir uns heute noch so schwer damit?

Tatsächlich ist Mehrsprachigkeit bereits die Norm. Man geht davon aus, dass weltweit 50-66 Prozent der Menschen mit mehr als einer Sprache aufwachsen. In vielen deutschen Nachbarländern wie Luxemburg oder der Schweiz ist dies der Fall. Mehrsprachigkeit ist Teil unserer genetischen Ausstattung und gehört zu den grundlegenden Fähigkeiten des menschlichen Gehirns. Deutschland war jedoch lange Zeit auch geschichtlich bedingt ein stark monolingual geprägtes Land. Mit der Zuwanderung von Gastarbeiterfamilien in den 1950er bis 1970er Jahren begann sich dies zu ändern. Aber auch hier wurde Mehrsprachigkeit eher mit geringem sozialen Status in Verbindung gebracht. Ein Umdenken beginnt zwar langsam, trotzdem bedarf es noch viel Aufklärungsarbeit und vor allen Dingen interdisziplinärer Forschung.

Über den Autor

Redaktion
Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

1 Antwort
  1. Reyhan sagte:

    Super Interview und tolle Tipps ! Studiere selbst Sprachwissenschaften und bin fasziniert von dem Thema.

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