Psychologie und Wirtschaftspsychologie

„Kreativität hat als bewundernswerte Eigenschaft an Bedeutung verloren“

von Redaktion, am 05.03.2016

Ohne Kreativität wäre der Mensch kein Mensch, sagt der Psychologe und Innovationsforscher István Garda. Wirft man einen Blick in die griechische Mythologie, war es der Titan Prometheus, der dem Menschen einst die Fähigkeit zu kreativem Denken brachte – in symbolischer Gestalt des Feuers. Warum gerade das Feuer als Symbol für Kreativität steht und was Mythen über den Stellenwert der Kreativität in der antiken Welt aussagen, erklärt Garda im Interview.

Sie stellen eine Verbindung zwischen zwei Begriffen her, die auf den ersten Blick nur wenig miteinander zu tun haben: Kreativität und Mythos. Bei Kreativität – oder Innovation, die beiden Wörter werden ja häufig synonym verwendet – denken wir an etwas Neugeschaffenes. Der Mythos dagegen erscheint als ein ältlicher Begriff, den wir eher in der griechischen Antike verorten. Wie passt das zusammen?

Überraschend gut. Der Prometheus-Mythos ist der zentrale Schöpfungsmythos: Der Sage nach stiehlt der Titan Prometheus den Göttern das Feuer und bringt es den Menschen. Dieses Feuer steht für die schöpferische Kraft, die Kreativität. Sie sorgt schließlich für den Aufstieg des Menschengeschlechts. Solche „Feuerbringer-Mythen“ sind unabhängig voneinander in vielen Kulturen entstanden.

Woher wissen wir, dass das Feuer als Symbol für die Kreativität steht?

Das wird in vielen Schriften so dargestellt, zum Beispiel in „Der gefesselte Prometheus“, einem bekannten Werk des antiken Dichters Aischylos. Darin heißt es, der Mensch sei als Ebenbild der Götter aus Lehm erschaffen worden, die Göttin Athene habe ihm dann Weisheit eingehaucht. Der Mensch besitzt demnach also bereits „geschickte Glieder“ und Vernunft. Aber zur Vollkommenheit und um von den Göttern unabhängig zu sein, mangelt es ihm noch an einer Fähigkeit: Er ist nicht in der Lage, etwas zu erschaffen.

Um diese Fähigkeit zu erlangen, benötigen die Menschen das göttliche Feuer. Prometheus weiß das und nimmt sich der Sache an, obwohl ihm klar ist, dass ihn dafür der Zorn Zeus` treffen wird – schließlich war die schöpferische Fähigkeit bisher ein Alleinstellungsmerkmal der Götter.

Warum steht im Prometheus-Mythos gerade das Feuer symbolisch für die Kreativität?

Viele Forscher sehen im Mythos einen Versuch, sich einer rational nicht erklärbaren Wirklichkeit zu nähern. Als Ursprung werden weit zurückliegende, bedeutende Ereignisse vermutet, die mythisch verschlüsselt in das kollektive Bewusstsein eingehen. Im Fall des Prometheus-Mythos ist es die Beherrschung des Feuers, ein entscheidender Meilenstein der Menschwerdung.

Der Benutzung und vor allem Herstellung von Werkzeugen wird oft eine ähnlich große Bedeutung zugemessen. Aber wenn wir die kreative Leistung bei den beiden „Erfindungen“ betrachten, ist diese im Fall des Feuers ungleich höher. Immerhin muss der Mensch gegen seine ursprünglichen Instinkte handeln und sich einem bedrohlich erscheinenden, potentiell gefährlichen und schmerzhaften Phänomen nähern. Es sind also die Bedeutung für den Menschen und der Schwierigkeitsgrad der Erfindung, die das Feuer zum idealen Symbol machen.

Sie sind Psychologe, lassen sich mythologische Erkenntnisse auf die psychologische Forschung übertragen?

Hier muss man sehr vorsichtig sein. Die Psychologie ist eine empirische Wissenschaft, sie stützt sich auf objektive Beobachtungen. Mythen dagegen stellen nicht die faktische Realität dar, die geschilderten Ereignisse haben so nicht stattgefunden. Zudem sind durch die ursprünglich mündliche Überlieferung zahlreiche Versionen entstanden, von Objektivität kann also keine Rede sein.

Dennoch gab und gibt es Berührungspunkte zwischen Mythos und Psychologie. Am bekanntesten ist vermutlich der Ödipus-Komplex. Ein von Sigmund Freud postuliertes psychologisches Phänomen, verknüpft mit der mythischen Gestalt des Königs Ödipus. Auch der Begründer der wissenschaftlichen Psychologie, Wilhelm Wundt, befasste sich mit Mythen. Allerdings beobachtet man auch häufig den Versuch, Mythen so zurechtzubiegen, dass sie die eigenen Theorien stützen oder zumindest vermarkten helfen.

Wenn ich mich als Psychologe mit der griechischen Mythologie beschäftige, geht es mir aber um etwas Anderes. Ich möchte nicht versuchen, konkretes menschliches Verhalten zu erklären. Ich schließe anhand der Mythen nur auf die Geisteswelt der Antike – und in dieser Welt scheint Kreativität eine zentrale Rolle gespielt zu haben. Das machen der Prometheus-Mythos und einige andere Mythen deutlich.

Welche anderen Mythen meinen Sie?

Zum Beispiel den Daedalos-Mythos. In dessen Zentrum steht Daedalos, ein Konstrukteur von Wundergeräten. Er soll ein brillanter Erfinder und Techniker gewesen sein, für seine kreativen Leistungen wurde er überall verehrt.

Oder nehmen Sie den Kampf um Troia, von dem Homers „Ilias“ handelt. Unter den belagernden Griechen wimmelt es von strahlenden, kampfstarken Helden, die es aber in zehn Jahren nicht schaffen, die Mauern Troias zu zerstören und die Stadt zu erobern. Erst dem erfindungsreichen Odysseus gelingt dieses Kunststück dank einer kreativen List: indem er Soldaten in einem hölzernen Pferd versteckt.

Kreative waren also die Helden der Antike. Heute dagegen sind unsere Helden jene Personen, die in der Ilias-Sage effektlos strahlen: Brad Pitt ist der kraftstrotzende und schnelle Achilles, Hauptfigur des Troja-Films aus dem Jahre 2004. Auch andere Leinwand- und Superhelden der letzten Jahre weisen ähnlich köperbetonte Eigenschaften auf. Kreativität hat in der öffentlichen Wahrnehmung als bewundernswerte Eigenschaft an Bedeutung verloren, das ist meine These.

Dennoch wird Kreativität als wichtige Größe geschätzt – vor allem und gerade in der deutschen Wirtschaft: Sie gilt als Wettbewerbsvorteil; jedes Unternehmen, das etwas auf sich hält, rühmt sich seiner kreativen Mitarbeiter; in den meisten Stellenausschreibungen wird beim Bewerber Kreativität als einstellungsrelevantes Merkmal vorausgesetzt. Wie erklären Sie sich das?

Zwar wird der Begriff Kreativität tatsächlich in der Wirtschaft nahezu inflationär gebraucht, dabei in vielen Fällen aber nur als leere Hülle, als Modewort. Denn eigentlich herrscht in vielen deutschen Unternehmen hoher Druck und eine gewisse Innovationsfeindlichkeit. Nehmen Sie den Abgasskandal bei VW: Der ehemalige Vorstandsvorsitzende Winterkorn hat bei jeder öffentlichen Rede die Innovativität seines Unternehmens gepriesen. Wie wir jetzt wissen, herrschte hinter den Kulissen nur gnadenloser Druck. Bei mehr zeitlicher und gestalterischer Flexibilität hätte man eine bessere Lösung für das Abgasproblem gefunden, da bin ich mir sicher.

Oder denken Sie an unsere Bildungspolitik. Auch dort scheint Kreativität fest verankert, sie gilt als fördernswert. Aber in Wahrheit werden Freiräume, in denen Kreativität möglich wäre, konsequent aus dem Bildungssystem entfernt. Die Schulzeit insgesamt wird gekürzt, viel Wissen soll in kurzer Zeit vermittelt werden, um effizienter für den Arbeitsmarkt auszubilden.

Man könnte fast sagen: Die Kreativität wird auf dem Altar der Effizienz geopfert. Das müssen wir unbedingt ändern. Vielleicht hilft uns der Gedanke an den Prometheus-Mythos, um uns der wahren Bedeutung der Kreativität zu besinnen. Der Titan Prometheus konnte ja in die Zukunft blicken und wusste daher, welche Strafe ihn erwartete. Aber er wusste auch, dass es keinen anderen Weg gab – dass der Mensch ohne Kreativität kein Mensch wäre.

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Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

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