Sprachtherapie

Keinen Betroffenen abschreiben – wie neue Therapien das Leben mit chronischer Aphasie verbessern können

Etwa 30 % der Menschen, die einen Schlaganfall überleben, leiden anschließend an einer Aphasie. Aufgrund der Sprachstörung sind sie mit zahlreichen Einschränkungen konfrontiert und, wenn diese andauert, häufig auf sich selbst gestellt. Doch nun zeigte die Studie FCET2EC zum ersten Mal mit einer hohen wissenschaftlichen Sicherheit, dass eine intensive Sprachtherapie diesen Menschen helfen kann.

Wir sprachen mit der Co-Autorin der Studie und Studiendekanin für Logopädie (B.Sc.) an der Hochschule Fresenius in Idstein Prof. Dr. Tanja Grewe. Im ersten Teil des Interviews erläuterte sie unter anderem die Sprachstörung und die Wirksamkeit der intensiven Sprachtherapie. Nun spricht sie darüber, wie diese mithilfe des Therapiemanuals ESKOPA-TM Eingang in die logopädische Praxis finden kann, und wirft einen Blick auf eine Folgestudie, in der Betroffene eine intensive Sprachtherapie mit einer Gleichstromstimulation erhalten.

DIE STUDIE FCET2EC ZEIGTE, DASS EINE INTENSIVE SPRACHTHERAPIE DAS SPRACHVERMÖGEN VON MENSCHEN MIT EINER CHRONISCHEN APHASIE NACH EINEM SCHLAGANFALL SIGNIFIKANT VERBESSERT. IN DIESEM RAHMEN HABEN SIE DAS THERAPIEMANUAL ESKOPA-TM ENTWICKELT, DAS IN DIESEM JAHR ERSCHEINT. WELCHEN MEHRWERT KANN ES FÜR DIE LOGOPÄDISCHE PRAXIS SCHAFFEN?

Das Therapiemanual diente in der Studie als Leitfaden für die gesamte Therapie. Es handelt sich um ein Manual zur Therapie der chronischen Aphasie, das evidenzbasiert ist, also auf gesicherten wissenschaftlichen Daten fußt. Die Therapeuten erhalten darin klare Strukturen und Richtlinien für die intensive Sprachtherapie. Gleichzeitig gibt es aber auch Freiräume, die es ihnen ermöglichen, die individuelle Lebenswelt der Betroffenen in die Therapie einzubeziehen.

WIE LÄUFT DIE INTENSIVE SPRACHTHERAPIE DEM THERAPIEMANUAL FOLGEND AB?

In dem Therapiemanual sind die Diagnostik und Therapie eng miteinander verknüpft. Dabei werden zunächst zwei Diagnostikverfahren durchgeführt und anschließend zwei sprachsystematische sowie zwei kommunikativ-pragmatische Therapieschwerpunkte bestimmt. Darüber hinaus erhalten die Therapeuten klare Kriterien, um in einem täglich stattfindenden Monitoring herauszufinden, welche Fortschritte oder auch Rückschritte die betroffenen Personen machen. Auf dieser Grundlage können die Therapieschwerpunkte inhaltlich an individuelle Leistungen beziehungsweise Leistungsveränderungen angepasst werden.

WIE KANN MAN SICH DIE THERAPIESCHWERPUNKTE VORSTELLEN?

Bei den sprachsystematischen Therapieschwerpunkten setzen sich Menschen mit einer Aphasie zum Beispiel damit auseinander, ob Wörter wie Apfelsine oder Orange dieselbe Bedeutung haben oder etwas Unterschiedliches meinen. Auf der Satzebene üben die Betroffenen zum Beispiel das Bilden einfacher Satzstrukturen oder auch das Vervollständigen von Sätzen und müssen dabei das Gelernte auch auf Inhalte mit einer ähnlichen Struktur übertragen. Die kommunikativ-pragmatischen Therapieschwerpunkte beziehen sich dagegen auf alltägliche Kommunikationssituationen: Menschen mit einer Aphasie lernen unter anderem in Rollenspielen, bei denen der Therapeut die Rolle des jeweiligen Gesprächspartners einnimmt, sich zu behaupten. Sie werden beispielsweise in ein Szenario in einem Zug versetzt, in dem jemand auf einem von ihnen reservierten Platz sitzt, und müssen sich durchsetzen. Neben mündlichen Antworten ist dabei, wie im Alltag auch, der Einsatz von Mimik, Gestik oder sonstigen nonverbalen Mitteln erlaubt.

INWIEFERN WERDEN ANGEHÖRIGE IN DIE THERAPIE MITEINBEZOGEN UND WELCHE ROLLE SPIELEN SIE DABEI?

In der täglichen Praxis ist die Unterstützung durch Angehörige sehr wertvoll. Zum einen kann der Therapeut durch sie mehr über den Betroffenen erfahren und seine Therapie besser auf dessen Interessen abstimmen. Zum anderen können Angehörige den Betroffenen bei der Therapie aktiv unterstützen und zum Beispiel das Eigentraining begleiten. Sie können aber auch im Alltag eine wichtige Stütze sein. Es ist deshalb wichtig, dass der Therapeut mit den Angehörigen Beratungsgespräche führt und ihnen zeigt, auf welche Weise und in welchem Maß sie unterstützen können.

SIE SIND DERZEIT AN EINER FOLGESTUDIE BETEILIGT, IN DER DIE BETROFFENEN NEBEN EINER INTENSIVEN SPRACHTHERAPIE AUCH MIT EINER GLEICHSTROMSTIMULATION BEHANDELT WERDEN. DAS KLINGT FÜR DEN LAIEN VIELLEICHT ZUNÄCHST EINMAL BEFREMDLICH. WIE LÄUFT EINE SOLCHE THERAPIE AB?

Das Wort Gleichstromstimulation klingt vermutlich befremdlicher, als es tatsächlich ist. In der Studie DC_TRAIN_APHASIA, die an der Universitätsmedizin Greifswald angesiedelt ist, vergleichen wir die Wirksamkeit der intensiven Sprachtherapie mit der Wirksamkeit der Therapie und einer zusätzlichen Gleichstrombehandlung. Die teilnehmenden Personen hatten, wie schon in der Studie FCET2EC, einen Schlaganfall und leiden seitdem seit mindestens sechs Monaten an einer Aphasie.

Die Studienteilnehmer erhalten eine intensive Sprachtherapie, die sich aus einer Benenntherapie und einer kommunikativ-pragmatischen Therapie auf Basis des Therapiemanuals zusammensetzt. Zu Beginn der Behandlung werden zwei Oberflächenelektroden am Kopf angebracht. Die Hälfte der Teilnehmer erhält eine Scheinstimulation, die andere Hälfte dagegen eine Stimulation mit leichtem Gleichstrom. Ihr Ziel ist, die Hirnaktivität und damit so etwas wie die „Einsatzbereitschaft“ der Hirnzellen in einem für die Sprachverarbeitung relevanten Areal des Gehirns zu erhöhen. Sie ist nicht invasiv, die Körperoberfläche wird, anders als zum Beispiel bei einer Injektion, nicht verletzt.

WELCHE ERGEBNISSE ERWARTEN SIE VON DER FOLGESTUDIE?

Es gibt bereits eine andere Vorgängerstudie, in der eine Sprachtherapie im Bereich der Bildbenennung mit einer Gleichstromstimulation verbunden wurde. Sie zeigte, dass die Stimulation die Verbesserung des sogenannten Wortabrufs noch einmal vergrößern kann. Zudem zeigte ein Follow-up der Studie, dass die Studienteilnehmer, die eine Gleichstromstimulation erhielten, auch sechs Monate nach dem Ende der Therapie signifikant bessere Leistungen beim Wortabruf zeigten.

Diese Ergebnisse möchten wir nun in unserer deutlich größeren und multizentrisch angelegten Studie mit einem hohen Evidenzgrad, also einer hohen wissenschaftlichen Sicherheit, bestätigen. Darüber hinaus behandeln wir in ihr sowohl in sprachsystematischen als auch kommunikativ-pragmatischen Therapiebereichen und erwarten aufgrund der Studie FCET2EC eine deutliche Verbesserung der alltagskommunikativen Fähigkeiten. Wir gehen davon aus, dass die Gruppe mit einer zusätzlichen Gleichstromstimulation noch stärker von der Intensivtherapie profitieren kann und signifikant größere kommunikative Verbesserungen zeigt als die Gruppe, die nur eine Scheinstimulation erhält.

AKTUELL ENTFÄLLT BEI MENSCHEN MIT APHASIE NACH EINEM SCHLAGANFALL NUR EIN VERSCHWINDEND KLEINER TEIL ALLER HEILMITTELVERORDNUNGEN AUF EINE SPRACHTHERAPIE. INWIEFERN KANN HIER IHRE FORSCHUNG NEUE PERSPEKTIVEN ERÖFFNEN?

Wir haben mit der Studie FCET2EC einen Grad an Evidenz erreicht, der relevant für die Leitlinie zur Rehabilitation aphasischer Störungen nach Schlaganfall ist. Diese Leitlinie wird aktuell überarbeitet. Wir hoffen daher sehr, dass unsere Forschungsergebnisse in der aktualisierten Leitlinie berücksichtigt werden. Ich würde es zudem als großen Erfolg ansehen, wenn darin eine höhere Frequenz der Sprachtherapie empfohlen werden würde.

Wenn die intensive Sprachtherapie für Menschen mit chronischer Aphasie in der Leitlinie empfohlen wird, kann dies die Frage nach der Kostenübernahme von Behandlungen sehr erleichtern: Die Betroffenen könnten leichter eine Therapie erhalten, auch wenn der Schlaganfall schon Monate, vielleicht Jahre zurückliegt. Denn Menschen, die von einer chronischen Aphasie betroffen sind, sollten zukünftig eine größere Chance auf eine wirksame Behandlung haben.