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DISKURSIV: Ist Social Media Gift oder Heilmittel?

von Melanie Hahn, am 29.03.2022

Ein Leben ohne Social Media ist für viele Menschen kaum mehr vorstellbar. Laut statista lag im Januar 2022 die Anzahl der Nutzer:innen von sozialen Netzwerken weltweit bei rund 4,62 Milliarden. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Anzahl um rund zehn Prozent gestiegen. Welche Auswirkung hat die Nutzung von Social Media Angeboten? Ist es Gift? Oder eher ein Heilmittel? Über diese Frage diskutieren Prof. Dr. Leonhard Fuest, Studiengangsleiter Medien- und Kommunikationsmanagement (M.A. und B.A.) und Professor für Medienforschung & Unternehmenskommunikation im Fachbereich Onlineplus, und Prof. Dr. Hendrik Müller, Studiendekan Philosophie, Politik und Wirtschaft (B.A.) und Studiengangsleiter Philosophy and Economics (M.A.) sowie Professor für Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftsethik und Prodekan Präsenz bei onlineplus, in dem aktuellen Diskursiv-Gespräch.

Negatives Verhalten und Polarisierung werden in den sozialen Netzwerken belohnt.

Hendrik Müller: Zum Einstieg erläutere ich gerne die Begriffe Heilmittel und Gift. Interessanterweise gibt es im Altgriechischen dafür das Wort Pharmakon, das für beide Begriffe verwendet werden kann. Das bringt mich auf einen platonischen Dialog – den Phaidros, in dem ein ägyptischer Gott, Thot sich mit der Erfindung der Schrift rühmt und sie als Heilmittel bezeichnet, da man sich mithilfe der Schrift besser an Dinge erinnern und dadurch Klugheit erlangen könne. Sokrates entgegnet ihm, dass die Schrift alles andere als ein Heilmittel sei. Vielmehr sieht er in der Verschriftlichung von Inhalten eine Spielerei, eine paidia. Und auch das ist im Altgriechischen sehr interessant: paidia und paideia, also Spielerei und Erziehung, haben den gleichen Wortstamm nämlich pais, das Kind, und sie sind somit vom Klang sehr ähnlich. Sokrates sieht die wahre Rede, den Dialog, das Gespräch, den Logos als die eigentliche Quelle von Klugheit an und sagt, dass man nur darüber Wissen erlangen könne. Sokrates sieht also in der Schriftlichkeit nur eine Spielerei, mit der man oberflächlich Dinge rekapitulieren kann, man könne aber über das Gespräch und damit die Seele wahres Wissen erlangen. Das antike Beispiel zeigt, dass diese Gedanken noch in der heutigen Diskussion zum Thema Social Media aktuell sind. Ist Social Media wirklich eine Spielerei? Ist es eine gute Wissensquelle? Oder ist das Ganze nur eine oberflächliche Ballung von Inhalten, ohne dass man daraus ernsthaftes Wissen generieren kann? Das ist meine Fragestellung.

Leonhard Fuest: Das ist eine gute Frage. Das habe ich auch aus dem antiken Kontext so verstanden. Im Phaidros wird beschrieben, dass die eine Partei sagt, die Schrift ist ein Heilmittel, weil es das Gedächtnis entlastet, da man nicht mehr alles Mitzuteilende im Gedächtnis tragen muss, man ist freier, weil man seine Gedanken aufschreiben kann. Die Giftthese hingegen lautet, dass man die Wahrheit nur aus der freien Rede, aus dem lebendigen Gedächtnis heraus hervorbringen kann. Damit wäre die Schrift nur eine ablenkende und schwächende Spielerei. In Sachen Schrift hat sich der Streit heutzutage erledigt, da sich dieses Medium seither durchgesetzt hat. So auch das Internet, das als Informations- und Wissensnetzwerk unumgänglich geworden ist. Was Social Media betrifft, können wir die Frage zuspitzen: Was ist an den sozialen Medien eigentlich hilfreich, vielleicht sogar heilsam? Und was daran ist giftig und abträglich im Sinne einer üblen Spielerei?

Hendrik Müller: Hier kann ich aus eigenen Erfahrungen berichten. Als ich mit Social Media begonnen habe, habe ich einen Facebook-Account eingerichtet – so wie viele andere. Zunächst habe ich den Austausch, mit denjenigen gepflegt, die ich aus den Augen verloren habe. Zu dem Zeitpunkt hat der soziale Austausch durchaus funktioniert. Wenn ich allerdings die Entwicklung heute beobachte, hat sich das deutlich geändert. Es sind seither viele Social-Media-Kanäle hinzugekommen. Aus meiner Sicht sind die dort entwickelten Leitbilder für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht mehr zuträglich. Dort werden vielmehr Ideale geschaffen, die zum Teil zu Störungen oder Zweifeln führen. Oder es entsteht Neid, weil Prominente ihre Statussymbole zur Schau stellen. Jaron Lanier hat in seinem Buch „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“, unter anderem die Gründe angeführt, dass die Nutzer:innen dort ausspioniert werden, es nur wenige Profiteure gibt und die große Masse das Nachsehen hat. Eine kritische Entwicklung.

Leonhard Fuest: Ich würde den kritischen Aspekt gerne noch weiter vertiefen. So befasst sich der Dokumentarfilm „The Social Dilemma“ populärwissenschaftlich mit dem Thema. Darin werden zum Beispiel Menschen interviewt, die den Likebutton entwickelt haben und sich inzwischen äußerst kritisch äußern. Aktualität hat das Thema auch mit dem Fall der Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen gewonnen. Der große Vorwurf lautet hier unisono: Manipulation, Konditionierung, intermettierende Verstärkung. Die Algorithmen werden so programmiert, dass die Abhängigkeit gesteigert wird, die Nutzer süchtig gemacht, manipuliert und konditioniert werden. Im Fokus stehen vor allem wirtschaftliche Interessen. Ich möchte sogar noch weitergehen: Negatives Verhalten und Polarisierung werden in den sozialen Netzwerken belohnt. Und das begünstigt eine Fake News Kultur. So sind Fake News die beliebteren und auch erfolgreicheren Botschaften, die von diesen Plattformen distribuiert werden. An dieser Stelle eine hypothetische Frage: Wenn wir glauben, dass Impfungen in der Pandemie hilfreich sind, hat Social Media den Impfungen einen Bärendienst erwiesen oder nicht? Hätten wir nur eindimensionale Medien, wäre dann ein Impferfolg substanziell ein anderer? Eine Frage, die wir so nicht beantworten können. Aber wenn wir uns das Motiv von Verschwörungsmythen, die Verstärkung von Verschwörungserzählungen durch Social Media anschauen, dann würde ich sagen, dass Social Media hier einen wesentlichen Anteil hat. Ein Problem, das wir in Richtung Toxitität auch ausbuchstabieren können. Das Social Dilemma Motiv besagt, nicht nur die individuelle Gesundheit steht auf dem Spiel, sondern auch die soziale Gesundheit, die Wahrheitsfrage nach Sokrates und die Gesundheit der Demokratie.

„Die Dosis macht das Gift“

Hendrik Müller: Wenn wir bei den Verschwörungsgruppen bleiben, hat sich klar gezeigt, dass sie Social-Media-Kanäle wie z.B. Telegram als Kanal nutzen, um ihre Theorien zu verbreiten. Mein Eindruck ist, dass die Social Media Anbieter versuchen, von der paidia zur paideia, also von der Spielerei zur Erziehung, zu kommen. Natürlich ist es nett, in die Social-Media-Kanäle zu schauen und ist auch für viele Menschen ein Zeitvertreib, was grundsätzlich nichts Verwerfliches ist, solange man es nicht übertreibt. Das wäre im Sinne von Sokrates eine paidia, also eine Spielerei. Aber Facebook versucht, mehr zu sein als eine reine Spielerei, es möchte sich zu einem richtigen Medienanbieter entwickeln. Jüngere Zielgruppen nutzen ohnehin eher selten klassische Nachrichtensendungen, sondern gelangen an Nachrichten über soziale Medien. Auch wenn ARD und ZDF auf Social Media vertreten sind: Wenn Facebook auswählt, welche Nachrichten verbreitet werden, führt das zu einer Macht, die einem Unternehmen nicht zustehen sollte. Und wir sprechen hier noch nicht vom Metaverse. Mit dieser virtuellen Technologie würde die Macht noch weiter gesteigert werden. Davor kann ich nur warnen.

Leonhard Fuest: Ein wichtiger Aspekt, der noch dazu kommt ist, dass Konzerne wie Meta schon jetzt Milliarden von Nutzer:innen haben. Das heißt, sie sind größer als ganze Staatenverbünde zusammen. Es handelt sich also schon um ein virtuelles Reich, das nach eigenen Gesetzmäßigkeiten und Regeln funktioniert. Und Algorithmen können perfekt eingesetzt werden, um zu manipulieren. Man könnte also sagen, es handelt sich um einen Schulterschluss zwischen zwei dystopischen Vorbildern: „1984“ und „Brave new world“. „Brave new world“ ist übrigens auch eine pharmakologische Geschichte, über eine Droge namens Soma, mit deren Hilfe alle Menschen gut eingestellt sind. Das wäre in dystopisch gesehen bei Metaverse auch zu befürchten. Lanier warnt davor, dass wir bereits jetzt schon ein Problem damit haben, dass User:innen nur noch ihre Informationen aus Social Media beziehen und diese Informationen auf Basis von Algorithmen zugewiesen bekommen. Also die Unterscheidungsmerkmale zwischen dem, was Fake und was Fakt ist, stehen dort schon gar nicht mehr zur Verfügung. Lanier empfiehlt: Löscht eure Accounts! Lest die Inhalte verschiedener Anbieter im Internet, aber glaubt nicht an das, was in den sozialen Netzwerken veröffentlicht wird. Wie sieht es mit der Eigenverantwortung der User:innen aus? Auch hier stellt sich die Frage, wie soll man sich verhalten? Hendrik, was würdest Du raten?

Hendrik Müller: Wir sagen nicht: Social Media und das Internet sind schlecht. Es bietet eine Fülle von Vorteilen und Möglichkeiten. Aber weil die Medien noch relativ neu sind, müssen wir sie so formen, dass sie nicht mit anderen kulturellen bzw. politischen Errungenschaften wie zum Beispiel der Demokratie kollidieren. Das Problem ist, das die Selbstverantwortung da aufhört, wo der Nutzer durch Algorithmen gesteuert wird. Das ist eine Sache, die wir nicht nachvollziehen können, es passiert unterbewusst. Das ist das Gefährliche. Wenn ich bewusst Inhalte im Internet suchen, ist es eine gute Wissensquelle, auf die ich schnell zugreifen kann und bietet darüber hinaus auch die Möglichkeit des Dialogs. Dabei ist wichtig, dass ich es selbstbestimmt und kritisch nutze. Das ist das, was Sokrates meinte, man muss die Dinge immer hinterfragen und darüber sprechen.

Leonard Fuest: Das sind schon sehr konstruktive Ansätze. Was die individuelle Verantwortung betrifft, können wir hier gut das Pharmokon-Paradigma verstärken, indem wir den alten Paracelsus-Satz-wiederaufleben lassen: „Die Dosis macht das Gift“. Bei einigen Anbietern kann man bereits die Nutzungsdauer reglementieren und entsprechend dosieren. Denn die Social Media Nutzung kann bei exzessiver Anwendung zu erheblichen Suchtproblemen, Konzentrationsproblemen, Gedächtnisproblemen und Fokussierungsproblemen führen. Wir sollten daher immer wissen, ab welchem Punkt es genug ist. So können wir uns vor Augen führen, wie Gift eigentlich wirkt: Gifte betäuben uns, können uns depressiv, aggressiv und unsozial werden lassen. Wenn aber die Dosis das Gift ist, müsste das Pharmakon-Paradigma im Gegenzug auch das Heilsame, das Gute benennen. So sind die dialogische Funktion oder auch die ästhetische Seite, vor allem technoästhetische Artefakte, zu nennen.

Jeder sollte sein Medienverhalten und seinen Medienkonsum kritisch hinterfragen

Hendrik Müller: Lanier hat dies als Ideal beschrieben: Die Demokratisierung des Internets. So wird das Wissen, dass früher nur einer Elite vorbehalten war, durch das Internet auch einer großen Masse zur Verfügung gestellt. Mit dem Internet kann die Menschheit auch ihr kulturelles Erbe erhalten. Wichtig ist dabei aber, dass alles allen zur Verfügung gestellt wird und nicht nur einer bestimmten Bubble. Bei manchen Kanälen wie TikTok geht es aber nicht um das Konservieren, sondern um kurze Momente, die schnell auch wieder verschwinden. Man kann hier auch über die Vergänglichkeit sprechen. Vorhin haben wir über das Erinnerungsvermögen und das Gedächtnis gesprochen. Wenn Informationen so schnell verschwinden, kann man sich gar nicht mehr erinnern.

Leonhard Fuest: Ich würde gerne auf die Aussage der Demokratisierung des Internets eingehen. Die Tatsache, dass die meisten Menschen weltweit Zugang zum Internet haben und sich auf Social Media äußern können – zum Teil auch anonym oder unter eine Pseudonym – hat einerseits den positiven Effekt der Partizipationsmöglichkeit. Anderseits zeigen die vielen Hasskommentare, dass eine sachliche, ruhige und demokratische Debattenkultur nicht möglich zu sein scheint.

Hendrik Müller: Die Frage ist: Ist diese Stimmung das Ergebnis der Social Media Nutzung? Oder sind diese Äußerungen das Ergebnis einer gemeingesellschaftlichen Entwicklung, die durch ganz andere Einflüsse angestoßen worden sind. Bei der Fridays-for-Future-Bewegung beispielsweise hat die Nutzung von Social Media zu einem starken Zusammenhalt geführt. Da scheint es eine heilsame Kraft zu geben. Aber die Wut in den Kanälen ist ebenso allgegenwärtig und wurde durch die Corona-Pandemie noch mal zusätzlich verstärkt.

Leonhard Fuest: Das Problem ist, dass das Belohnungssystem, also das Dopaminsystem, belohnt wird, wenn man möglichst viele Likes bekommt. Und die meisten Likes erhält man, wenn man auf die Politiker:innen schimpft. Je extremer, desto besser. Dann ist man Teil eines manipulativen, toxischen und kommunikativen Spiels.

Hendrik Müller: Mediale und gesellschaftliche Entwicklung können wir kaum mehr voneinander trennen. Das was in Medien geschieht, hat auch Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft und umgekehrt. Die Frage ist: Sind wir noch eine Gesellschaft? Gibt es überhaupt noch die Leitmedien? Derzeit wird alles in kleinere Formate aufgebrochen. Je mehr Medien es gibt, desto weniger Gemeinsamkeiten gibt es am Ende. Das wäre toxisch für die Gesamtgesellschaft.

Leonhard Fuest: Das heißt, wir haben dann eine soziomedial katalysierte Desozialisierung der Gesellschaft zu befürchten. Es stellt sich die Frage, was können wir dagegen tun? Mit einer Kanondiskussion etwa könnten wir die Verbesserung der Netzwerke anstreben.

Hendrik Müller: Wir müssen ein Gegengewicht schaffen. Das ist auch unsere Aufgabe als Bildungsanbieter, zu zeigen, dass es auch andere Quellen des Wissens und der Wahrheit gibt. Die sind im Sinne der Kanonisierung schon sehr viel älter. Und damit kommen wir zum Anfang unseres Gesprächs. Das heißt nicht, dass jeder die platonischen Dialoge gelesen haben muss, aber jeder sollte sein Medienverhalten und seinen Medienkonsum kritisch hinterfragen.

Prof. Dr. Leonhard Fuest ist seit 2021 für den Fachbereich Onlineplus der Hochschule Fresenius tätig. In seiner Antrittsvorlesung stellte der Literaturwissenschaftler und Medienforscher unter dem Titel „Das pharmakon – als medienwissenschaftliches Paradigma“ seinen Forschungsbereich vor. 2015 ist sein Buch Poetopharmaka. Heilmittel und Gifte der Literatur erschienen.

Seit 2017 ist Prof. Dr. Hendrik Müller als Professor für Wirtschaftsethik und Unternehmens-
kommunikation an der Hochschule Fresenius in Hamburg tätig. Themenstellungen wie Corporate Citizenship, Corporate Social Responsibility (CSR) und ethisches Verwaltungshandeln beschäftigen ihn seit seiner beruflichen Praxis – u.a. bei Bertelsmann – aber schon seit über 20 Jahren.

Quellen:

– „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst!“, Jaron Lanier, 2019

Über den Autor

Melanie Hahn
Melanie Hahn ist Teil der adhibeo-Redaktion und arbeitet als Pressesprecherin für die Fachbereiche Wirtschaft & Medien und onlineplus der Hochschule Fresenius.