Wirtschaft und Management

„Gewinnt der Underdog, dann ist das ein Sieg der Kreativität!“

von Redaktion, am 12.06.2014

Spielanalyse, taktische Formationen, Leistungsdaten – der moderne Fußball ist extrem durchorganisiert. Dennoch finden sich immer wieder Räume, in denen sich Kreativität entfalten kann. Gerade bei einer Fußball-Weltmeisterschaft sei dies sehr gut zu beobachten, so István Garda von der Hochschule Fresenius München. Zum WM-Start spricht der Psychologe und langjährige Kreativitätsberater über die Turnierchancen kreativer Mannschaften und erklärt, warum er heute Abend Kroatien die Daumen drückt.

Die Brasilianer eröffnen heute gegen Kroatien die WM. Brasilianischen Nationalmannschaften wird immer wieder nachgesagt, besonders kreativen Fußball zu spielen. Liegt das vielleicht daran, dass sich in deren Reihen traditionell viele Fußballer finden, die auf der Straße oder am Strand Fußballspielen gelernt haben, also an Orten, an denen die Konventionen des offiziellen Spiels weniger zählen?

Das ist zu vermuten. Unkonventionelle Bedingungen kann man als ein natürliches Kreativitätstraining sehen. Denn wer einmal auf einem engen Hinterhof, ein andermal auf einem schlaglochübersäten Staubplatz spielt, steht vor wechselnden Herausforderungen, die nur mit Flexibilität und Improvisation zu bewältigen sind. Diese Faktoren sind Grundressourcen der Kreativität.

Von Pelé wird erzählt, dass er als Kind in Ermangelung eines echten Balls mit ausgestopften Socken und Grapefruits trainieren musste. Oft wird betont, dass er trotz dieser schwierigen Bedingungen ein herausragender Fußballer geworden ist. Ich bin überzeugt, dass er nicht trotz, sondern wegen dieser Bedingungen ein vielseitiger Spieler geworden ist, der seine Gegner stets überraschen konnte.

Bedeutet das, dass in einem Land wie Deutschland, in dem das Fußballtraining schon im Jugendbereich unter hochprofessionellen Bedingungen stattfindet, Kreativität sich nicht optimal entwickeln kann?

Das ist eine paradoxe Situation. Die gute Ausstattung kommt den Spielern natürlich in vielerlei Hinsicht zugute. Für die Entwicklung einer kreativen Spielweise kann es aber ein Nachteil sein, wenn man seit der frühesten Jugend nur geregelte, konstante Bedingungen kennt.

Brasilien ist heute Abend in der Favoritenrolle, das zeigt auch ein Blick auf die Wettquoten. Sie sagen, Sie stehen bei derartigen Spielen eher auf der Seite des Underdogs. Warum?

Weil die schwächere Mannschaft sich einiges einfallen lassen muss, um den Favoriten zu überraschen und für dieses Ziel oft auf volles Risiko setzt. Gewinnt der Underdog, dann ist das ein Sieg der Kreativität!

Ist gerade bei einem selten stattfinden Fußballevent wie einer WM besonders viel Kreativität auf dem Platz zu erwarten?

Ja, dafür gibt es einige Gründe: Nationalmannschaften sind weniger eingespielt, haben weniger gefestigte Strukturen als Vereinsmannschaften. Sie verfallen also nicht ganz so schnell auf Standardlösungen. Es spielen oft mehrere dominante Charaktere zusammen, die sich arrangieren  müssen. Die Spieler bringen zudem unterschiedliche Einflüsse aus ihren Vereinen mit. Vor allem aber entstehen viele der vorhin erwähnten Underdog-Situationen, in denen die schwächere Mannschaft dann oft einfallsreich spielt.

Warum fällt es vermeintlich kleinen Teams leichter, kreativ zu spielen?

Kreativität bedeutet immer Chance und Risiko zugleich. Beim heutigen Spiel sind die Kroaten dringend auf diese Chance angewiesen. Gleichzeitig können sie sich erlauben, ein Risiko einzugehen, denn eine Niederlage gegen den Turnierfavoriten wäre kein Weltuntergang. Genau umgekehrt verhält es sich für die Brasilianer. Sie werden auf ihre spielerische Überlegenheit setzen und kein Risiko eingehen. Denn eine Niederlage können sie sich nicht erlauben. Ein riskant kreatives Spiel werden wir von ihnen nur dann sehen, wenn sie sicher in Führung liegen sollten.

Trotz der Kreativitätsvorteile kleinerer Mannschaften gewinnen am Ende immer die etablierten Teams: mit Ausnahme Griechenlands bei der EM 2004 haben sich bei den letzten großen Turnieren immer auch große Fußballnationen durchgesetzt. Warum?

Weil fußballerische Kreativität darauf abzielt, den Gegner mit unvorhergesehenen Manövern zu überraschen. Das kann man natürlich nicht beliebig oft wiederholen, weil der Gegner ja aus der Überraschung lernt und Gegenmittel anwendet.  In anderen Sportarten, wie zum Beispiel beim Sumō-Ringen, gelingt das besser: hier reicht ein überraschender Moment, um den Gegner aus dem Ring zu werfen und zu gewinnen.

Das Fußballspiel dauert dagegen 90 Minuten und gute Gegner stellen sich eben auf die Kreativität des Gegners ein – oder sie ersticken sie im Keim: spielt man nämlich dominant, mit viel Ballbesitz und setzt den Gegner bei Ballverlust sofort unter Druck – so wie Bayern München in der jüngeren Vergangenheit erfolgreich war – kann die Kreativität der gegnerischen Mannschaft gar nicht zur Entfaltung kommen. Mal sehen, ob Brasilien für heute Abend einen solchen Matchplan besitzt.

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Redaktion
Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

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