Gesundheit, Therapie und Soziales

„Einige fahren sogar wieder in Urlaub“

von Redaktion, am 23.04.2015

Sport und Bewegung steigern die Leistungsfähigkeit und Lebensqualität von Menschen mit Multiple-Sklerose-Erkrankung – das belegen internationale Studien. Trotzdem bleibt viel Potenzial ungenutzt, sagt beispielsweise Stephanie Kersten vom Institut für komplexe Gesundheitsforschung an der Hochschule Fresenius. Erst wenn der Patient Kompetenzen übertragen bekommt und selbstständig sein Training steuern kann, sind die Erfolge wirklich nachhaltig.

Sie arbeiten im Rahmen eines Forschungsprojektes schon längere Zeit mit Multiple-Sklerose-Patienten zusammen. Dabei geht es hauptsächlich um die positiven Auswirkungen von Bewegung und Sport auf den weiteren Krankheitsverlauf. Was ist der initiale Gedanke hinter diesem Projekt?  

Es geht zunächst einmal darum, die Einstiegshürde für den Sport deutlich zu senken. Bei weitem nicht alle Multiple-Sklerose-Patienten – und in vielen Fällen nicht einmal deren behandelnde Ärzte – wissen über Sportmöglichkeiten Bescheid. Oder sie haben zu wenige Informationen über unterschiedliche Wirkungsweisen von Trainingsmaßnahmen. Es gilt in diesem Zusammenhang nämlich nicht die Devise „Hauptsache Bewegung“. Im Internet finden sich zahlreiche Hinweise zum Sport, leider befinden sich darunter auch Empfehlungen, die jeglicher Evidenzbasierung entbehren. Die sollten mit der entsprechenden Vorsicht konsumiert werden.

Nachweisbar sind Erfolge beim Laufen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Jogging oder Nordic Walking handelt, wichtig ist der Bodenkontakt mit den Füßen. Dadurch werden Reflexe ausgelöst und Stoffe ausgeschüttet, die Nervenwachstum und -schutz merklich fördern. Deshalb ist es unser Ziel, dass sich MS-Patienten über ihre Möglichkeiten aufklären lassen, kritisch mit den Informationen zum Thema Sport umgehen und selbstbewusst ihr individuelles Training gestalten. Das ermöglicht die Teilhabe an Aktivitäten gemeinsam mit anderen und bewirkt signifikante Verbesserungen im Alltag.

Wo liegen denn die größten Herausforderungen?

Grundsätzlich tut sich ein MS-Patient mit der Entscheidung für den Sport sehr viel schwerer als ein gesunder Mensch – umso mehr dann, wenn er schon vor der Diagnose keinen oder kaum Sport getrieben hat. Natürlich ist es etwas anderes, wenn ein Sportler erfährt, dass er an Multiple Sklerose erkrankt ist. Ein ganz wesentlicher Aspekt ist außerdem die Ermüdung des Patienten – wir sprechen von der so genannten Fatigue-Symptomatik. Diese ist keinesfalls mit einer Ermüdungserscheinung beim gesunden Menschen zu vergleichen. Sie tritt plötzlich, ohne Vorwarnung und oft in heftiger Form auf – und bei vielen geht dann wirklich sprichwörtlich gar nichts mehr. Das wirkt sich auch auf eine mögliche sportliche Aktivität aus. Überanstrengung kann unter Umständen einen kompletten Knockout für mehrere Tage bedeuten – mit den entsprechenden Konsequenzen für das berufliche und gesellschaftliche Leben.

Die Fatigue ist auch der Grund dafür, dass starre Trainingspläne mit festen Zeiten eher kontraproduktiv sind. Tritt die Ermüdung just zu dieser Zeit auf, lässt sich der Plan nicht einhalten. Nicht selten führt das zu Frustration. Wir wollen Sport und Bewegung aber bewusst mit positiven Empfindungen belegen.

Wie erreichen Sie das? 

Wir möchten dem Patienten Selbstbewusstsein vermitteln und ihn in eine aktive Rolle schlüpfen lassen. Das bedeutet, dass wir ihn einerseits – auf emotionaler Ebene, wenn Sie so wollen –  ermuntern, selbst zu entscheiden, wann und wo er Sport treibt und auch mit wem. Gerade die gesellschaftliche Komponente ist nicht zu unterschätzen, das Gefühl dazuzugehören und gemeinsam aktiv mit Freunden und Verwandten etwas zu unternehmen. Diese Selbstbestimmung und Disziplin erreichen wir aber nur – und jetzt sind wir eher auf der kognitiven Ebene – mit dem nötigen Grundlagenwissen und entsprechender Vorbereitung. In unseren Schulungen beginnen wir mit einem Eingangstest, um den Status quo zu ermitteln. Daran schließen wir unsere Patientenschulung in Theorie und Praxis über zwei Wochenenden an.

Das Programm beinhaltet vor allem Koordinations- und Orientierungsübungen, Ausdauer- und Krafttraining und berücksichtigt die individuelle Lebenssituation des Patienten. Er lernt, den Bewegungsalltag eigenständig zu steuern, Sportphasen so zu planen, dass sie durchführbar sind und dabei die richtigen Schwerpunkte zu setzen. Nach dem ersten Schulungswochenende soll der Patient vier Wochen lang eigenständig trainieren, bevor es erneut zu einem gemeinsamen Treffen kommt. Am zweiten Schulungswochenende reflektieren wir, wiederholen und üben Neues ein. Nach weiteren acht Wochen finden dann die Ausgangstests statt. Diese gehen auf Schnelligkeit, Ausdauer, Koordinationsfähigkeit, Lebensqualität und Symptomatik ein.

Mit welchem Erfolg?

Qualitative Analysen belegen, dass unsere Schulungen tatsächlich den geplanten Effekt haben. Im Bereich der Schnelligkeit liegen die Verbesserungen bei unseren Probanden durchschnittlich bei rund fünf Prozent, bei der Ausdauer sind es circa elf Prozent, bei der Koordination rund 12,5 Prozent. Die Gangsicherheit erhöht sich, die Gehstrecken werden länger, die angesprochenen Erschöpfungszustände werden seltener. Und: Die Patienten sind merklich selbstbewusster. Sie nehmen wieder vermehrt am gesellschaftlichen Leben teil, meistern den Alltag besser und können anders mit beruflichen Herausforderungen umgehen. Von einigen Patienten wissen wir, dass sie wieder in Urlaub fahren, daran haben sie aus Angst vor Stürzen oder nicht behindertengerechten Einrichtungen früher nicht einmal gedacht. Das ist bei allen positiven statistischen Werten vielleicht der größte Erfolg: Die Lebensqualität steigt.

Über den Autor

Redaktion
Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

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