Psychologie und Wirtschaftspsychologie

„Erwachsene zeigen weniger hyperaktives Verhalten – eher eine Art innere Unruhe“

Robert Kneschke/Fotolia

von Redaktion, am 14.10.2014

Das Krankheitsbild ADHS hat in den vergangenen Jahren eine beeindruckende Karriere hingelegt: Die sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung wird heute weit häufiger diagnostiziert als früher. Woran liegt das? Und wie äußert sich eigentlich die Störung? Prof. Dr. Sören Schmidt, Studiendekan für Angewandte Psychologie an der Hochschule Fresenius Köln, forscht seit vielen Jahren zum Thema ADHS. In seiner Antrittsvorlesung gab er vor kurzem spannende Einblicke in seine Arbeit. adhibeo hat anschließend mit ihm gesprochen.

Sie haben vor kurzem Ihre Antrittsvorlesung zum Thema ADHS, der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, gehalten. Wie sind Sie einst darauf aufmerksam geworden?

Ich habe an der Uni Bremen studiert und 2005 dort mein Diplom gemacht. Anschließend habe ich in der Psychologischen Ambulanz der Universität eine Stelle als Psychologe angetreten. Zu diesem Zeitpunkt lag ein Fokus auf der Arbeit mit Kindern- und Jugendlichen, auch deswegen, weil viele der Patienten, die dort hinkamen, die Diagnose ADHS hatten. Damals haben wir dort schwerpunktmäßig neuropsychologische Diagnostik und auch Aufmerksamkeitstrainings angeboten – der Bezug zur ADHS kommt bei mir also aus der Praxis.

Schließlich kam es dann zu einer Fokussierung auf ADHS bei Erwachsenen. Warum?

In einer Ambulanz-Teamsitzung wurde damals die Anfrage einer psychiatrischen Klinik aus Bremen diskutiert, welche das Thema ADHS und die fehlenden diagnostischen Möglichkeiten bei Erwachsenen beinhaltete. Auch Forschung gab es zu diesem Thema zu der Zeit noch vergleichsweise wenig. Es wurde die Frage gestellt, ob von unserer Seite Interesse daran bestünde, hierzu gemeinsam ein diagnostisches Verfahren zu entwickeln. Damit war die Idee geboren. Ich habe begonnen, mich in diesem Bereich zu engagieren und es als Thema für meine Doktorarbeit gewählt. In diesem Rahmen habe ich dann eineinhalb Jahre in der Klinik mitgearbeitet, Aufnahmegespräche geführt und einen Test entwickelt, mit welchem sich Symptome einer ADHS bei Erwachsenen erfassen lassen.

Während dieser Zeit bin ich vielen interessanten und spannenden Menschen begegnet, das Thema hat mich also immer tiefergehender interessiert. ADHS ist eine mehrdimensionale Störung und allein zur diagnostischen Erfassung bedarf es vieler verschiedener Sichtweisen, die man einnehmen und viele verschiedene Aspekte, die man erheben muss. Je mehr ich mich mit diesem Thema beschäftigt habe, desto mehr habe ich dann auch über die Begleiterscheinungen erfahren und geforscht.

Wie äußert sich ADHS?

Menschen mit ADHS leiden unter einem, wie der Name schon sagt, Aufmerksamkeitsdefizit. Viele Reize strömen auf sie ein und sie können diesen Strom nicht wirklich gut verarbeiten. Dies führt bei Erwachsenen häufig zu desorganisiertem Verhalten, was den typischen Alltag mit all seinen Anforderungen oft erheblich beeinträchtigt.

Des Weiteren ist häufig eine ausgeprägte Hyperaktivität festzustellen, was bei betroffenen Kindern gerade in der Schule, aber auch in anderen Situationen, in denen das ruhige Sitzenbleiben gefordert ist, zu Problemen führt. Betroffene Erwachsene zeigen allerdings weniger hyperaktives Verhalten – hier ist eher eine Art innere Unruhe oder ein Getriebensein festzustellen.

Zuletzt ist eine erhöhte Impulsivität zu erkennen. Dies kann durch vorschnelle Handlungen, wie zum Beispiel unüberlegte Einkäufe oder auch impulsive Reaktionen in Streitgesprächen, seinen Ausdruck finden.

Auf der anderen Seite ist aber anzuführen, dass betroffene Kinder und Erwachsene durch die Störung häufig über einen sehr viel breiteren Reizfilter verfügen. Viele Betroffene sind dadurch sehr kreativ, offen gegenüber Neuem und dadurch oft eher bereit, Neues auszuprobieren.

Vom Individuum zur Gesellschaft – welchen Stellenwert nimmt ADHS im wissenschaftlichen und im gesellschaftlichen Diskurs mittlerweile ein?

ADHS hat einen großen Stellenwert im wissenschaftlichen Diskurs. Mittlerweile gibt es sehr viele Studien, die sich diesem Thema widmen und viele verschiedene Perspektiven beleuchten. Dabei geht es nicht nur alleine um die ADHS als Krankheitsbild, an welchem Menschen unterschiedlicher Altersgruppen leiden, sondern auch um die Auswirkungen der Störung und somit um den gesellschaftlichen Kontext.

Dies lässt sich beispielsweise darüber ausdrücken, dass ADHS nicht nur im Gesundheitswesen relevant ist, sondern auch symptombedingte Auswirkungen, zum Beispiel auf die Verkehrssicherheit oder auch auf Arbeitsausfälle, mit der Störung in Verbindung gebracht werden. Somit ist der Stellenwert, den ADHS in diesem Diskurs aufweist, aus meiner Sicht recht groß.

Ist ADHS eine Zivilisationskrankheit?

Ich tue mir mit diesem Begriff im Kontext einer ADHS etwas schwer. Historisch betrachtet gibt es die Symptome, die wir heute mit der ADHS assoziieren, schon lange, wenn auch in einem anderem Ausmaß. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass nun alles auf einen Trend zurückzuführen ist – durch den Fortschritt in der Forschung der letzten Jahrzehnte ist das Wissen, was mit den Entstehungsbedingungen, der Diagnostik, aber auch der Behandlung der Störung verknüpft ist, ein deutlich breiteres.

Sicher spielen gesellschaftliche Aspekte aber trotzdem eine entscheidende Rolle. Ein Beispiel: Unsere Kinder durchlaufen die Schule mit stetig steigenden Anforderungen, deren Meisterung eine zugrundeliegende ADHS erschwert. Auch für Lehrkräfte wird es immer anspruchsvoller, da – vor dem Hintergrund inklusiver Schulen und oft ebenfalls sehr hoher Klassenstärken – der Umgang mit ADHS-betroffenen Kindern eine zusätzliche Herausforderung darstellt. Somit fallen die Kinder in diesem Kontext oft deutlicher auf – dies unter dem alleinigen Aspekt eines Zivilisationstrends zu diskutieren, halte ich jedoch für nicht vollständig.

Inwiefern handelt es sich bei ADHS um eine immer öfter gestellte Diagnose?

Es gibt einen Verschreibungstrend bei Medikamenten, die Kurve ist in den letzten zehn Jahren deutlich angestiegen. Auch verweisen Auswertungen von Krankenkassendaten auf einen deutlichen Anstieg der gestellten Diagnosen in den letzten Jahren, was auf diesen Trend hindeutet. Allerdings sollte hier auch ein differenzierter Blick auf epidemiologische Daten erfolgen, welche sich mit dem Anteil der ADHS-Betroffenen an der Gesamtbevölkerung beschäftigen. Diese sogenannte Prävalenz liegt bei etwa fünf Prozent im Kindes- und Jugendalter sowie zwischen ein bis vier Prozent bei den Erwachsenen und ist in den letzten Jahren vergleichsweise konstant geblieben, so dass sich ein solcher Anstieg hier weniger feststellen lässt.

Was ist der Grund für diesen Verschreibungstrend?

Mit dem Blick auf die letzten 15 Jahre lässt sich festhalten, dass es viele Studien gibt, die sich mit der der Medikationsbehandlung beschäftigt haben und dieser eine hohe Wirksamkeit bescheinigen. Sie stellt sich vergleichsweise schneller ein als die Effekte einer Psychotherapie allein, was sicherlich einen Einfluss auf die Verschreibungshäufung ausgeübt hat. Gegenwärtig gilt allerdings, dass eine pharmakologische Behandlung nur kombiniert mit einer Psychotherapie erfolgen sollte.

Es scheint jedoch auch einen weiteren Aspekt zu geben, der sich letztendlich auf die Häufigkeit der Verschreibung von Medikamenten auswirken dürfte und die Güte des diagnostischen Prozess einer ADHS generell in Frage stellt: Die Wahrnehmung eines ADHS-Prototypen. Ganz vereinfacht dargestellt wäre dies ein zappeliger Junge, der sich schlecht konzentrieren kann und in der Schule Probleme hat. Dieser Umstand kann dazu führen, dass eine Diagnose eventuell vorschnell gestellt wird, obwohl die entsprechenden Kriterien nicht erfüllt sind, was dann zur Fehldiagnose führen kann.

Wie können diese Fehldiagnosen verhindert werden?

Es gibt ganz klar definierte diagnostische Leitlinien, nach denen die Diagnose einer ADHS zu stellen ist. Da es sich bei der Störung nicht um ein monokausales Phänomen handelt, muss sie demnach auch auf mehreren Ebenen untersucht werden. Da reichen ein Fragebogen oder ein kurzes Gespräch nicht aus, sondern es müssen weitere Informationen, z.B. aus dem Umfeld, sorgfältig einbezogen werden. Alles in allem ein sehr aufwändiger Prozess, der aus meiner Sicht aber absolut notwendig ist, um eine möglichst genaue Diagnose zu stellen und somit auch eine gute Basis für eine Therapie zu schaffen.

Zu dem zuvor erwähnten Begriff Fehldiagnose gibt es eine bekannte Studie, könnten Sie sie kurz erläutern?

Die Kollegen Bruchmüller, Margraf und Schneider der Universitäten Bochum und Basel publizierten 2012 die Ergebnisse einer Studie, in welcher 473 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und -psychiater mit der Bearbeitung von Fallvignetten beauftragt wurden. Es wurde gefordert, eine Diagnose ausgehend von den Angaben in der Fallvignette zu stellen und ein therapeutisches Vorgehen zu empfehlen. Es gab keine Gespräche oder tatsächlichen Patientenkontakt. Das Ergebnis der Studie zeigte, dass es insgesamt in 16,7 Prozent der Fälle zu Fehldiagnosen kam. Auffällig ist dabei, dass der Anteil der Fehldiagnosen bei Jungen mit 22 Prozent doppelt so hoch lag wie bei Mädchen. Daraufhin schlossen die Kollegen unter anderem, dass es so etwas wie einen Prototyp für die ADHS geben muss, dessen Wahrnehmung sich auf diagnostische Urteile auswirken kann.

Medikation bei ADHS – ein viel diskutiertes Thema. Aus Ihrer Sicht eher Fluch oder Segen?

Der goldene Mittelweg in diesem Fall. Ein Medikament kann vielen Betroffenen helfen und den Leidensdruck erheblich reduzieren, bei anderen allerdings wiederum zu Nebenwirkungen führen. Wenn Eltern bei ihren Kindern Appetitlosigkeit, Stimmungsschwankungen oder auch das Auftreten von Tics feststellen, dann kann ich – als Vater zweier Kinder – Vorbehalte gegenüber einer Medikation sehr gut nachvollziehen. Auf der anderen Seite ist es allerdings auch so, dass die Medikation eine stark ausgeprägte Symptomatik so beeinflussen kann, dass die erfolgreiche Teilnahme an einer Therapie ermöglicht wird. Wichtig ist hier allerdings auch, dass eine Medikation immer mit einer Therapie kombiniert wird. Das Medikament kann Dir schließlich nicht sagen, wie Du Dich in bestimmten Situationen verhalten sollst.

Also gibt es neben dem Verschreibungstrend auch einen Therapietrend, der parallel ansteigt?

Betrachtet man die Entwicklung psychotherapeutischer Programme zur Behandlung einer ADHS, dann trifft dies sicher mit Blick auf die letzten Jahre zu. Das Wissen um die Wirksamkeit konkreter psychotherapeutischer Behandlungsformen ist ein breites. Problematisch bleibt lediglich, dass es eine deutlich größere Nachfrage an Therapieplätzen gibt, als Angebote zur Verfügung stehen und in vielen Praxen eine lange Wartezeit in Kauf genommen werden muss.

Bei den Erwachsenen ergibt sich ein anderes Problem: Es gibt wenige Schwerpunktpraxen, die sich auf die Behandlung ADHS-betroffener Erwachsener fokussieren. Dazu kommt, dass die Psychotherapie der ADHS bei Erwachsenen von den Krankenkassen häufig nicht ohne weiteres übernommen wird, was die Zugangswege erschwert. Somit ergibt sich eine Lage, nach der ein Bedarf an therapeutischer Versorgung durchaus gleichermaßen hoch ist – die tatsächlichen Möglichkeiten aber begrenzt ausfallen, was letztendlich dazu führt, dass ein Therapietrend nur schwer abzubilden ist.

Was ist für Sie der zentrale Aspekt, der über die Anwendung einer Medikation und/oder Therapie entscheiden sollte?

Ich denke, es ist der Leidensdruck. Zum Thema Leidensdruck haben mir die Biografien einiger Patienten die Augen geöffnet, die selbst angaben, dass sie entsprechende Symptome schon seit ihrer Kindheit aufweisen, diese aber nie als krankheitswertig betrachteten. Einzelne beschrieben einen durchaus positiven Effekt durch eine damals durchgeführte Medikationsbehandlung, fühlten sich dabei jedoch nicht wohl, da sie der Meinung waren, nicht mehr sie selbst zu sein.

Ich habe ADHS zuvor sehr pathologisch betrachtet, diese Erfahrung hat mir aber dann eine andere Sichtweise gegeben. Die meisten Betroffenen erleben durch die Störung erhebliche Beeinträchtigungen, keine Frage, aber eben nicht alle. Letztlich ist es aber auch genau das, was dieses Arbeitsfeld so spannend macht.

Über den Autor

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Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

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