Psychologie und Wirtschaftspsychologie

Hilfe! Oder doch nicht? – Über die Hintergründe von Hilfsbereitschaft

von Redaktion, am 19.06.2013

Sei es, dass dem Kollegen ein Stapel Papiere heruntergefallen ist, jemand mit Kinderwagen an der Treppe scheitert, oder wir selbst eine Frage nicht beantworten können, weil uns eine englische Vokabel fehlt – jeden Tag geraten wir in Situationen, in denen wir anderen helfen oder selbst Hilfe gebrauchen könnten. Aber wovon hängt es ab, ob wir hier aktiv werden? Annika Musiol und Marcel Janz haben in ihrer wirtschaftspsychologischen Bachelorarbeit experimentell untersucht, welche Rolle in solchen Momenten die Verfügbarkeit sozialer Normen spielt – und welche unsere Persönlichkeit. Von Katja Mierke

Stellen Sie sich vor, Sie hätten gerade im Internet über eine Studie gelesen, in der man herausgefunden hat, dass die Deutschen bei aller manchmal heraufbeschworenen sozialen Kälte doch ein sehr hilfsbereites Volk sind: Wissenschaftler eines renommierten Forschungsinstituts hätten in der Münchener Innenstadt Alltagssituationen nachgestellt und Passanten um kleine Gefälligkeiten gebeten, z. B. ihr Handy für eine wichtige SMS zu verleihen. Dabei sei herausgekommen, dass über 80 Prozent der insgesamt 8.000 angesprochenen Passanten spontan hilfsbereit gewesen seien. Beeinflusst Sie das in Ihrem eigenen Verhalten? Offenbar. Aufbauend auf sozialpsychologischen Studien anderer Forscher haben Annika Musiol und Marcel Janz in ihrer gemeinsam konzipierten Bachelorarbeit zeigen können, dass unsere Hilfsbereitschaft stark davon abhängt, was wir buchstäblich gerade im Kopf haben.

Ein Drittel ihrer Versuchsteilnehmer las im Artikel, dass die angebliche Studie überraschend hohe Hilfsbereitschaft gezeigt habe, ein weiteres Drittel jedoch, dass nur erschreckend geringe 20 Prozent der Passanten geholfen hätten. Die übrigen Probanden lasen als Kontrollbedingung einen neutralen Text über eine Restauranteröffnung in Düsseldorf. Anschließend füllten die insgesamt 120 Teilnehmer einen Fragebogen aus. Wenn sie fertig waren, signalisierten sie dies der Versuchsleiterin, die stets mit Unterlagen beladen vom anderen Ende des Raums auf sie zu kam und dabei „versehentlich“ einen Stift fallen ließ. Von den 40 Probanden, die den Text über hohe Hilfsbereitschaft gelesen hatten, halfen 31 und hoben den Stift auf. Besagte der Text jedoch, dass laut Studie nur 20 Prozent hier Hilfestellung gaben, waren es lediglich 8 von 40 – ein extremer Unterschied. Die Kontrollgruppe lag mit 22 von 40 hilfsbereiten Teilnehmern in der Mitte. Das Experiment fand in Einzelsitzungen statt, die Probanden waren also jeweils mit der Versuchsleiterin allein und damit unbeeinflusst von dem, was sie sonst vielleicht gerade bei anderen beobachten könnten.

Nicht nur Hilfestellung geben, auch Hilfe suchen wird wahrscheinlicher

Neu war vor allem, dass erstmals auch überprüft wurde, ob die Leute sich auch selbst eher Hilfe suchen, wenn sie glauben, hohe Hilfsbereitschaft sei „normal“. Um alle Teilnehmer in eine hilfsbedürftige Situation zu bringen – ohne dabei ethische Grenzen zu überschreiten –, befand sich im Fragebogen ein Teil mit Fragen, der angeblich leider nur auf Englisch vorlag. Drei der Fragen enthielten eine für den Sinn zentrale Vokabel, die zwar plausibler Weise ein englisches Wort sein könnte, jedoch nicht existiert (z. B. „A demanding text maduces me“). So kamen auch Teilnehmer, die fließend Englisch beherrschen, in die Lage, dass sie die Frage nicht beantworten konnten, ohne nachzufragen oder das bereit liegende Lexikon zu bemühen. Auch hier zeigte sich, dass die Teilnehmer, die gerade gelesen hatten, Helfen sei normal, eher Unterstützung bei der Versuchsleiterin suchten, als jene, die gerade gelesen hatten, dass es unwahrscheinlich ist, Hilfe zu erhalten.

Im Fragebogen wurde zudem gemessen, wie narzisstisch die Teilnehmer sind, ein Persönlichkeitsmerkmal, das typischerweise mit übersteigertem Selbstwertgefühl, starker Selbstbezogenheit und geringem Interesse für die Belange anderer einhergeht. Wie erwartet zeigten sich Menschen mit hohen Narzissmuswerten weniger hilfsbereit und suchten weniger Hilfe. Darüber hinaus machte es bei ihnen zudem interessanter Weise praktisch keinen Unterschied, welchen Text sie gelesen hatten. Sie sind also kaum dadurch zu beeinflussen, was als soziale Norm gilt und was nicht.

Was wir lesen, prägt unser Bewusstsein – das kann auch in der Arbeitswelt von Bedeutung sein

Für alle Nicht-Narzissten gilt jedoch: Medien prägen das Bewusstsein und was wir im Bewusstsein haben, bestimmt unser Verhalten – und zwar ohne dass uns dies bewusst sein muss. Diese Verantwortung sollten sich Medienschaffende immer vergegenwärtigen, wenn sie über angeblich verbreitete Verhaltensweisen oder Trends berichten. Denn auch ohne reale Grundlage kann hier schnell das entstehen, was in der Sozialpsychologie unter dem Namen „selbst-erfüllende Prophezeiung“ bekannt ist: Wenn Menschen ihr eigenes Verhalten spontan einer angeblichen Norm anpassen, wird real, was möglicherweise nur auf Grundlage weniger Einzelbeobachtungen oder aus einer Sommerlochflaute heraus „berichtet“ wurde. Und wer dann nicht einmal mehr um Hilfe fragt, wenn er welche braucht, kann auch nicht mehr die Erfahrung machen, dass andere gern helfen würden – wenn man ihnen nur die Gelegenheit gäbe. Auch wer weniger hilfsbereit handelt, weil er dies für normal hält, wird im Gegenzug voraussichtlich auch von seinem Umfeld künftig weniger Hilfe erhalten. So bestätigt sich eine soziale Erwartung aus sich selbst heraus.

Die Erkenntnisse sind nicht zuletzt von enormer Bedeutung für das Arbeiten in Organisationen: Ob Kollegen sich im Team gegenseitig helfen und bei Bedarf Hilfe holen, kann für den Erfolg eines Projekts absolut entscheidend sein. Gelingt es also einem Unternehmen, beispielsweise in seinen Leitlinien, einen guten Teamgeist nicht nur als wünschenswert, sondern als ganz normal zu präsentieren, so könnte dieser regelrecht herbeigeschrieben werden.

Über die Entwickler des Experiments: Annika Musiol und Marcel Janz haben die Ergebnisse ihrer Bachelorarbeit bereits auf der Tagung experimentell arbeitender Psychologen vor wissenschaftlichem Publikum vorgestellt, eine gemeinsame Publikation in einer Fachzeitschrift ist in Vorbereitung.

Über die Autorin: Prof. Dr. Katja Mierke ist Professorin im Studiengang Wirtschaftspsychologie an der HS Fresenius Köln und leitet diesen derzeit kommissarisch. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind angewandte Kommunikations- und soziale Kognitionspsychologie, Determinanten der Arbeitgeberattraktivität sowie Stresserleben und ressourcenorientierte Bewältigung. Zuletzt veröffentlichte sie den Aufsatz „Gender and Diversity Management: Explicit Cultural Values Help to Attract Target Group Members“ im Journal of Business and Media Psychology.

Über den Autor

Redaktion
Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

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