Chemie, Biologie und Pharmazie

Wirtschaft und Management

Gamification – um gute Noten spielen?

von Redaktion, am 13.12.2013

E-Learning-Programme sind heute fester Bestandteil zeitgemäßer Bildung. Deshalb arbeitet die Hochschule Fresenius schon seit einiger Zeit mit der internetbasierten Lernplattform ILIAS und treibt deren Entwicklung mit der jährlichen Verleihung des ILIAS Award aktiv voran. In diesem Jahr ging der Award unter anderem an das Projekt „Physikalische Chemie 2.0 – Game-based Learning in den Naturwissenschaften“. Darin haben Prof. Dr. Thorsten Daubenfeld, Studiendekan Wirtschaftschemie an der Hochschule Fresenius Idstein und sein Kollege Dr. Dietmar Zenker ein interaktives Adventure-Spiel entworfen, das die Studierenden virtuell durch den Vorlesungsstoff der Physikalischen Chemie führt. Im Interview sprechen die Entwickler, die von der adhibeo-Redaktion zu den Fresenius-Köpfen des Monats gekürt wurden, über ihr Konzept, den erfolgreichen Start und ihre Vergangenheit als „Gamer“.

Dass Lerninhalte medial aufbereitet werden ist nicht neu. Die Hochschule Fresenius unterstützt ihre Lehre bereits seit Jahren mit der internetbasierten Lernplattform ILIAS. Lerninhalte in Videospiele zu integrieren gab es bisher nur selten. Wie sind Sie auf diese Idee kommen?

Thorsten Daubenfeld: Die heutigen Studierenden, die „Digital Natives“, wachsen in und mit einer völlig anderen medialen Erfahrungswelt auf. Daher haben sie auch an ein Studium eine mediale Erwartungshaltung, die die klassische Lehre alleine nicht bedienen kann. Wir wollten daher im abstrakten Fach „Physikalische Chemie“ für die Studierenden eine Lernumgebung schaffen, mit der sie sich stärker identifizieren können. Eine Umgebung, die sie motiviert.

Die Idee selber kam mir, als ich mit meinem dreijährigen Sohn wegen Fieber beim Arzt war. Als der Arzt den Fiebersaft verschrieb, stellte er mich vor die Entscheidung: „Erdbeer- oder Orange-Geschmack“. Sprich: wenn die Medizin bitter schmeckt, dann muss man eben Geschmacksstoffe hinzugeben, damit sie geschluckt wird und ihre Wirkung entfalten kann. Was das mit Hochschullehre zu tun hat? Diese wird eben auch häufig als „bitter“ wahrgenommen, genau wie die Medizin. Und dann muss ich als Dozent eben dafür sorgen, dass sie für die Studierenden „schmackhaft“ wird.[box headline=“Fresenius-Kopf des Monats“]In der Rubrik „Fresenius-Kopf des Monats“ werden Personen porträtiert, die sich auf dem Gebiet der angewandten Wissenschaften hervorgetan haben oder die Hochschule in besonderer Weise unterstützen und mit ihren Ideen verändern. So kann die Veröffentlichung einer Forschungsarbeit genauso Anlass für ein Porträt sein wie Innovationen in der Lehre, Dienstjubiläen, überdurchschnittliches Engagement, herausragende studentische Leistungen sowie bemerkenswerte Werdegänge von Absolventen.

Bislang in dieser Rubrik erschienen:

Gamification bezeichnet das Anwenden von Spielmechaniken und -dynamiken in spielfremden Kontexten. Sieht so die Lehre von morgen aus und/oder wie könnte sie aussehen?

Dietmar Zenker: Dies ist sicherlich eine von vielen Möglichkeiten. Wir sehen im Bereich des E-Learning eine Reihe von Entwicklungen, die durch verschiedene Faktoren angetrieben werden. Einige wurden von Herrn Daubenfeld bereits benannt: das veränderte Medienverhalten der Studierenden, das weniger vom Buch, sondern mehr von audiovisuellen Medien geprägt ist. Dies ist unter anderem durch die Verbreitung von internetfähigen Mobilgeräten bedingt, die zum Lesen längerer Texte weniger geeignet sind. Dafür unterstützen diese natürlich in hervorragender Weise das zeit- und ortsunabhängige Lernen, wobei dies nicht mehr wie beim „klassischen E-Learning“ am PC über einen längeren Zeitraum am Stück, sondern eher zeitlich gestückelt erfolgt: Beim Warten an der Bushaltestelle wird ein Quiz absolviert oder während der Fahrt ein kurzes Video-Podcast angeschaut. Gerade wir als private Hochschule dürfen diese Entwicklung nicht ignorieren und müssen bei der Ausgestaltung und dem Angebot unserer Lerninhalte unserer Zielgruppe zumindest ein gutes Stück weit entgegenkommen. Andererseits sehen wir die Gefahr, dass durch die Zerlegung von Lerninhalten in einzelne „Häppchen“, also ein Screencast hier, ein Test da, der Blick für das große Ganze verloren geht und die Einordnung in einen Gesamtkontext erschwert wird. Dem kann man beispielsweise entgegenwirken, indem man diese Lerninhalte in eine spielorientierte Rahmenhandlung integriert.

Thorsten Daubenfeld: Die klassische Lehre, und dazu möchte ich auch das klassische E-Learning inklusive der MOOCs (Massive Open Online Courses, Anm. d. Red.) zählen, hat meiner Ansicht nach einen entscheidenden Nachteil: sie legt sich meist immer auf vorher klar definierte Pfade fest. Seien das Vorlesungsskripte oder aber „Lernpfade“ in einer elektronischen Lernumgebung. Lernen verläuft aber nicht so. Lernen ist kein unidirektionaler Prozess. Lernen ist ein langsames Vorantasten in einem Irrgarten, bei dem man immer wieder gezwungen ist, einmal zurückzugehen, wenn man in eine Sackgasse gelaufen ist. Das erfordert einen Dozenten, der als „Coach“ den Studierenden zur Seite steht und sie zum richtigen Zeitpunkt in die richtige Richtung lenkt.

Und hier sehe ich den großen Vorteil spielbasierten Lernens. Denn gerade beim Spielen mache ich Fehler, lerne aus diesen und werde im nächsten Schritt besser. Halten Sie sich hier noch einmal den Ursprung des Wortes „studieren“ vor Augen. Es stammt aus dem Lateinischen und bedeutet soviel wie „sich bemühen“. Ob diese Bemühung auch von Erfolg gekrönt ist, bleibt dabei sprachlich offen. Aber ohne die Bemühung bleibt der Erfolg definitiv aus. Und wer nie, wie beim Spielen, die Vielfalt möglicher Fehler und Irrwege erfahren hat, dem wird es auch in der Berufspraxis schwerer fallen, Probleme zu erkennen und Lösungen zu erarbeiten.

Sie wurden für das spielbasierte Lernen in den Naturwissenschaften mit dem ILIAS Award ausgezeichnet. Glückwunsch! Wie lautete die Begründung zur Preisverleihung?

Dietmar Zenker: Der integrative Ansatz, also die gelungene Kombination von E-Learning-Elementen mit Präsenzphasen, war ein maßgeblicher Aspekt. Die starke Betonung des gruppenbasierten Spiels in ILIAS und der damit verbundenen Gruppenarbeit in den Kolloquien war ein weiterer wichtiger und auch neuer Aspekt.

Dahinter steckt sicher viel Arbeit. Was war nötig, um dieses Spiel zu entwickeln?

Dietmar Zenker: Nun, zunächst mal viele gute Ideen und eine spannende Story für die Rahmenhandlung. Unser Anspruch, das Ganze nicht nur rein textbasiert anzubieten, sondern mit passenden grafischen Elementen auszugestalten und dadurch lebhafter und spannender zu machen, hat natürlich den Aufwand um einiges erhöht. Die ursprüngliche Idee, hierfür einen externen Grafiker zu beauftragen, wäre allein schon aus Kostengründen kaum umsetzbar gewesen. Da ich im Rahmen meiner langjährigen Tätigkeit unter anderem als Autor von E-Learning-Inhalten auch mit computergestützter 3D-Konstruktion und -Animation vertraut bin, war es naheliegend, diese Techniken auch für die Erstellung der Grafiken in unserem Spiel einzusetzen. Vorteil der Umsetzung als 3D-Modell ist, dass man es im Gegensatz zur gezeichneten 2D-Variante jederzeit einfach modifizieren, also zum Beispiel darin enthaltene Objekte anders positionieren oder durch Setzen oder Verschieben der „virtuellen“ Kamera neue Bilder und Ansichten erzeugen kann. Man kann das Ganze oder Teile davon auch animieren: Für die Umsetzung eines Demo- oder Imagefilms kann man beispielsweise problemlos einen Rundflug durch die Szenerie rendern, das geht mit einer 2D-Zeichnung nicht.

Wenn das Material aber dann fertig ist, kann man es ja in den folgenden Semestern jederzeit wiederverwenden, das relativiert den Aufwand wieder etwas.

Thorsten Daubenfeld: Des Weiteren mussten die Vorlesungen vollständig „virtualisiert“ werden. Das bedeutete für mich als Dozenten: Powerpoint-Folien der Vorlesung erstellen, vertonen und dann anschließend auf ILIAS einbinden.

Waren Studierende bei der Entwicklung beteiligt?

Thorsten Daubenfeld: Das Spiel wurde maßgeblich von Herrn Dr. Zenker und mir entwickelt. Wir hatten aber mit Jonas Bär, einem Studierenden des Studiengangs Angewandte Chemie, einen kritischen externen „Tester“, der uns wertvolle Impulse für die Entwicklung dieser Methodik geliefert hat.

Wie ist das Spiel aufgebaut?

Thorsten Daubenfeld: Die Inhalte der Vorlesung wurden digitalisiert und in Form von vertonten Screencasts und Selbsttests in einer Lerneinheit auf ILIAS zusammengefasst. Aus allen Lerneinheiten ergibt sich für die Studierenden ein Weg in und durch den „Irrgarten der Physikalischen Chemie“. Zur Visualisierung dieses Weges werden die einzelnen Lerneinheiten in eine dreidimensionale Landschaft eingebettet, die durch weitere grafische Elemente zum Beispiel Häuser oder Bäume ausgestaltet ist. Diese Benutzeroberfläche soll als „Geschmacksstoff“ dienen, da sie näher an der medialen Erfahrungswelt der jüngeren Generation ist.

Die Studierenden arbeiten den Lernstoff in Gruppen durch. Dabei arbeiten in jeder Gruppe leistungsstarke und -schwächere Studierende gemeinsam zusammen. Die Idee hierbei ist, dass die Studierenden sich gegenseitig beim Lernen unterstützen.
Der Anreiz zur Teilnahme am Spiel ist der Erwerb von Bonuspunkten, die auf die Klausur am Ende des Semesters angerechnet werden. Diese werden durch das Bestehen von Kolloquien erworben, die jeweils am Ende eines Kapitels, also eines Levels, des Spiels liegen. Unmittelbar vor dem Kolloquium wird eine Person aus der Gruppe zufällig ausgewählt, die stellvertretend für die gesamte Gruppe antritt. Besteht sie das Kolloquium, kommt die Gruppe weiter, falls nicht, muss die Gruppe das Kolloquium wiederholen.

Welchen Nutzen erhoffen Sie sich für sich als Lehrenden, für den Unterricht und die Studierenden?

Thorsten Daubenfeld: Als Dozent kann ich meinem Lehrauftrag besser erfüllen, den Studierenden die fachspezifischen Kompetenten zu vermitteln. Oder sagen wir besser: sie dabei zu begleiten, während sie diese Kompetenzen jetzt selbst erlernen. Denn der Unterricht findet in zunehmendem Maße außerhalb des Hörsaals statt, wenn die Studierenden den Stoff in der Selbstlernphase selber erarbeiten. Auch für die Studierenden verschwimmen die traditionellen Grenzen: mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der das Privatleben in Form von Smartphones in die Vorlesung Einzug hält, akzeptieren die Studierenden, dass die Vorlesung in Form spielbasierten Lernens im studentischen Privatleben Fuß fasst.

Welche Vorteile und welche Nachteile bietet das spielbasierte Lernen?

Dietmar Zenker: Der explorative Charakter und die Einbettung von abstrakten und eher trocken empfundenen Lerninhalten wirkt auf die Studierenden sehr motivierend, und dieses Szenario sorgt dafür, dass sich die Studierenden kontinuierlich mit dem Stoff befassen und nicht erst kurz vor der Prüfung damit anfangen. Als zusätzlicher Motivationsschub wirkt natürlich auch die Gruppenarbeit, sowohl gruppenintern als auch im Wettbewerb mit den anderen Gruppen.

Von Nachteil ist der hohe Zeitaufwand, sowohl für den Dozierenden bei der Erstellung als auch für die Studierenden beim Durcharbeiten. Letzteres dürfte aber zu einem großen Teil durch den Zeitgewinn vor den Klausuren wieder kompensiert werden.

Können Sie schon Prognosen machen, ob das „Game-based Learning“ erfolgsversprechend ist? Wie reagieren die Studierenden und Schüler darauf?

Thorsten Daubenfeld: Das bisherige Feedback der Studierenden ist sehr positiv. Zudem sind neben den Studierenden mittlerweile auch Chemietechniker aus unserer Fortbildung in das Spiel eingestiegen und ebenfalls sehr angetan von dieser Lehrmethode. Eine detaillierte Evaluierung ist für Ende Januar 2014 geplant.

Man könnte dem spielbasierten Lernen entgegenhalten, dass die Schüler und Studierende zu alt zum Spielen sind und ihre Ausbildung/Studium entsprechend ernst nehmen sollten. Was sagen Sie dazu?

Thorsten Daubenfeld: Warum spielen kleine Kinder eigentlich so gerne? Weil sie ihre Welt entdecken, begreifen und erfahren wollen. Dabei schaffen sie es dann irgendwie in und mit ihrem Kopf das zu entwickeln, was wir als „Phantasie“ bezeichnen, die Grundlage für wissenschaftliches und kreatives Arbeiten.

Spielerisches Lernen liegt also in unserer menschlichen Natur. Sollte die Frage daher nicht eher lauten: Wann und warum verlernen wir eigentlich das Spielen? Oder haben wir es gar nicht verlernt, sondern unterdrücken den Spieltrieb nur? Dann wird es höchste Zeit, ihn wieder freizulegen und seine Vorzüge für die moderne Hochschullehre zu nutzen.

Dietmar Zenker: Der Erfolg der Spielkonsolen und der Siegeszug der Tablet-PCs widerlegen eindeutig diese These, genauso wie diverse Studien zu diesem Thema. Spielen ist gesellschaftsfähig und weit verbreitet, auch bei Älteren. Was sich mit dem Alter allenfalls ändert ist die Qualität der Spiele, Ego-Shooter werden in der Tat bevorzugt von Jüngeren gespielt.

Gründet sich die Idee auf eine persönliche „Zocker-Vergangenheit“?

Thorsten Daubenfeld: „Zocken“ verbinde ich immer mit „Glücksspiel“ – davon distanziere ich mich, da es meiner Ansicht nach nichts mit „Spielen“ zu tun hat. Spielen hat immer eine strategische Komponente: ich muss mir über meine Möglichkeiten bewusst sein und diese gezielt einsetzen, um ein Ziel zu erreichen. Und das ist in einer Prüfung im Studium im Grunde genommen dasselbe wie in einem Rollenspiel.

Und warum Vergangenheit? Ich bin immer noch begeisterter Fantasy-Rollenspieler, wenn auch derzeit leider nicht aktiv. Mich faszinieren detailliert und vielschichtig ausgearbeitete sowie konsistent durchdachte Phantasie-Welten. Als vorbildliches Beispiel kann man hier die Welt „Aventurien“ nennen, die im Rollenspiel „Das schwarze Auge“ eine zentrale Rolle spielt. Diese Phantasie-Welten sind eine wundervolle Quelle für Inspirationen, auch und gerade für meine alltägliche Arbeit als Hochschuldozent!

Dietmar Zenker: Auch ich habe in der Vergangenheit gerne Fantasy-Spiele am Computer gespielt und natürlich hilft solch eine Vorerfahrung bei der Umsetzung eigener Ideen in dieser Richtung.

Über den Autor

Redaktion
Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

1 Antwort
  1. Denis Wolff sagte:

    Sehr interessanter und informativer Artikel! Gerade momentan ist Gamification überall anzutreffen, vgl. sportliche Aktivitäten durch das N*ke Fuel Band o.ä. taggen und sich mit Freunden gegenseitig messen. Klasse Projekt und zurecht gewonnen. Glückwunsch an das gesamte Team!

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