Medien

„Wir haben es in Deutschland versäumt, die neuen digitalen Möglichkeiten inhaltlich sinnvoll zu nutzen“

von Redaktion, am 27.09.2016

Als die Lage während des Amoklaufs von München noch völlig unübersichtlich war, kursierten im Internet bereits die ersten Bilder und Videos, die von vermeintlichen Terroranschlägen im ganzen Stadtgebiet berichteten. Am Ende wurde die Polizei durch diese Aufnahmen etliche Male auf die falsche Fährte gelockt. Im Rahmen des Forschungsprojekts PERFORMANCE soll daran gearbeitet werden, dass sich solche Szenarien in Zukunft nicht mehr wiederholen. Dr. Stephan Humer, Internetsoziologe an der Hochschule Fresenius Berlin, ist Teil des wissenschaftlichen Projektteams. Im Interview geht er näher auf Forschungsidee und -ziele ein.

Herr Dr. Humer, bereits nach dem Bombenanschlag auf den Boston-Marathon im Jahr 2013 hat sich gezeigt, wie groß die Bereitschaft in der Bevölkerung ist, die Ermittlungsbehörden mit auf Smartphones gespeicherten Bild- und Videoaufnahmen zu unterstützen. Während des Amoklaufs von München Mitte dieses Jahres wurde dann aber auch deutlich: verbreitet über die Sozialen Medien können diese Aufnahmen die Behörden auf die falsche Fährte locken und Menschen unnötig in Panik versetzen. Im Rahmen eines Forschungsprojekts arbeiten Sie nun am Aufbau einer Plattform mit, die diese Probleme lösen soll. Können Sie das näher erläutern?

Im Rahmen unseres Projekts PERFORMANCE soll eine Systemplattform entwickelt werden, die nicht nur den Upload, sondern auch die Weiterverarbeitung der hochgeladenen Daten ermöglicht. Zum Beispiel soll es unmittelbar und mehr oder weniger automatisch zu einer Vorsortierung der an die Polizei geschickten Videos und Fotos kommen, damit die Beamten eine gewisse Arbeitserleichterung erhalten. Aktuell muss die Polizei alle digitalen Eingaben noch komplett manuell bearbeiten – ein riesiger Aufwand.

Das Projekt soll also vor allem dazu dienen, die Arbeit der Polizei zu erleichtern?

Nicht nur, es handelt nicht um ein reines Polizeiprojekt. Wir untersuchen vielmehr auch die Rolle privatwirtschaftlicher Akteure und natürlich die der Öffentlichkeit – die ja kommunizieren und uploaden soll und auch will, wie wir beim Münchner Attentat sehen konnten.

Dabei werden leider nicht immer nur positive Botschaften abgesetzt: Wir alle kennen die Diskussionen über die Verbreitung von Verschwörungstheorien, Hassreden oder Terrorpropaganda via Facebook, Twitter und Co. Bei solch gigantisch großen digitalen Plattformen sind nicht nur Staat und Wirtschaft, sondern letztlich wir alle gefragt. Die Polizei allein kann in der digitalen Sphäre nicht alles beurteilen, was wichtig sein könnte, kann sich nicht überall umsehen, wo es gefährlich werden könnte.

Mit diesem Projekt transportieren wir quasi die klassischerweise analoge Unterstützung der Polizei durch die Bevölkerung, die im Falle besonderer Ereignisse wie in München zu beobachten ist, geordnet in die digitale Gegenwart.

Stichwort Verschwörungstheorie: Nach dem Amoklauf von München kursierten in den Sozialen Medien wochenlang diverse Verschwörungstheorien. Im Kern stützten sie sich auf die gleiche These: Polizei und Medien hätten ganz bewusst Informationen zurückgehalten, alles sei ganz anders gewesen – das sei durch Smartphone-Aufnahmen doch eindeutig zu belegen! Man hat den Eindruck, eine wachsende Zahl der Deutschen hätte kein oder nur noch begrenztes Vertrauen in Behörden und Medien. Ist das nicht das eigentliche Problem? Wo liegen die Ursachen dafür?

Das Problem des Vertrauensverlustes in staatliches Handeln steht mit der zunehmend komplexer erscheinenden Welt in Zusammenhang. Mehr denn je müssen wir alle ganz individuelle Kommunikations- und Analyseleistungen vollbringen, da wir immer seltener vorgefertigte Erklärungsschablonen nutzen können, die die Welt leicht und schnell strukturieren. Am Beispiel von Terror und Krieg sieht man das sehr gut: die frühere Einteilung der Welt in „gut“ und „böse“ zu Zeiten des Kalten Krieges erschien für viele Menschen geradezu willkommen. Die heutigen Krisenherde und Terrorherausforderungen sind im Vergleich viel verwirrender.

Wenn eine Gesellschaft nun das Gefühl beschleicht, dass die Verantwortlichen in Politik und Medien keine passenden Antworten mehr auf die Fragen der Gegenwart finden, erodiert das Vertrauen. Ein besonders wichtiger Grund für diese Entwicklung liegt meines Erachtens darin, dass wir es in Deutschland versäumt haben, die neuen digitalen Möglichkeiten inhaltlich sinnvoll zu nutzen.

Wie meinen Sie das?

Es gibt nicht wenige Beobachter, die Deutschland als digitales Entwicklungsland sehen – und da kann ich nur voll und ganz zustimmen. Ein wenig übers iPhone wischen macht eben noch keinen Experten. Asien und Amerika sind uns inhaltlich meilenweit voraus – nicht ohne Grund kommen die weltweit führenden Online-Anbieter aus diesen Regionen oder sie haben Ideen kopiert, die dort entstanden sind.

Diese kulturellen Unterschiede führen nun dazu, dass der Umgang mit den Informationsmöglichkeiten im Internet für viele Menschen hierzulande immer noch eine riesige Herausforderung darstellt. Dieses Problem kann nicht so leicht gelöst werden, da unserer Gesellschaft schlichtweg die richtige Digitalkultur fehlt.

Wie kann man eine solche Kultur aufbauen? Was ist zu tun, um das verlorengegangene Vertrauen zurückzugewinnen?

Die deutsche Gesellschaft muss einen drastischen Kulturwandel vollziehen. Die Digitalisierung muss endlich als eine der größten Herausforderungen unserer Zeit anerkannt werden, man muss sich ihr entsprechend intensiv widmen, ihre positiven wie negativen Seiten offen, ehrlich und proaktiv analysieren und in den Griff bekommen.

Politik und Medien müssen hier mit gutem Beispiel vorangehen, um das in der Tat nicht nur in geringem Maße eingebüßte Vertrauen zurückzugewinnen. Es ist eigentlich ganz einfach: man kann politisch nur ernstgenommen werden, wenn man authentisch ist. Offensichtlich abwegige Lösungen von vorgestern anzubieten, verstört die Menschen nur. Deshalb halte ich unser Projekt für ein sehr positives Beispiel, da sich die beteiligten Projektpartner ihrer Möglichkeiten, aber auch ihrer Grenzen im digitalen Raum sehr bewusst sind und man versucht, ergebnisoffen, ehrlich und sachlich eine Lösung zu erarbeiten. Das scheint mir der einzig brauchbare Weg zu sein, auch wenn er keine schnellen Antworten bietet. Aber die Welt ist nun mal in der Tat komplexer als je zuvor. Je eher wir uns damit abfinden und uns mit Lösungswegen beschäftigen, desto besser.

Über den Autor

Redaktion
Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

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