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Psychologie und Wirtschaftspsychologie

Fastenzeit: „Rückmeldungen aus dem Körper mehr Gehör schenken“

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von Melanie Hahn, am 25.02.2019

Essen dient in erster Linie der Nahrungsaufnahme. Gesteuert durch ein komplexes Regulationssystem unseres Körpers sichert es unser Überleben. Aber auch psychologische Aspekte wie das Wohlbefinden oder äußere Einflussfaktoren wie das Überangebot an Nahrung in Wohlstandsgesellschaften oder auch das gesellige Beisammensein mit anderen Menschen spielen eine Rolle beim Essen. Viele Menschen in der westlichen Welt ernähren sich ungesund, sie essen zu viel, zu schnell oder nehmen zu fettige Kost zu sich. Die Folge: Diabetes, Herzerkrankungen, Schlaganfälle nehmen zu und die Kosten für das Gesundheitswesen steigen. Die anstehende Fastenzeit nehmen daher viele zum Anlass, um gesünder zu leben, Verzicht zu üben oder auch um abzunehmen. Im Idealfall möchten sie dieses Ziel erreichen, ohne dabei zu hungern.

Ein Forschungsschwerpunkt der Interozeptionsforscherin Prof. Dr.phil. rer.nat.habil. Beate M. Herbert, Diplom-Psychologin, Professorin für Biologische Psychologie & Klinische Psychologie an der Hochschule Fresenius in München und Privatdozentin an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, ist die Perzeption und Verarbeitung von internen körperlichen Signalen (Interozeption) und deren Bedeutung für die Entstehung eines gesunden oder gestörten körperlichen Selbsterlebens. Dabei steht auch die Fähigkeit des Menschen, Signale wie Hunger- oder Sättigungsgefühle wahrzunehmen, im Vordergrund. Im Interview erklärt sie, welche Prozesse im Körper dabei ablaufen und wie wichtig es ist, Körpersignale wahrzunehmen.

Frau Herbert, Sie sind Interozeptionsforscherin. Was bedeutet das? Und inwiefern spielt das Thema Ernährung hier eine Rolle?

Der Begriff Interozeption bezieht sich auf die Fähigkeit, Signale aus dem Körperinneren wahrzunehmen und im Gehirn zu verarbeiten. Dies ist die Basis für die Entstehung eines kongruenten Selbst. Interozeption ist eine wesentliche Grundlage für die Integration von vielen anderen sensorischen Wahrnehmungen des Menschen, so auch aus der externen Welt, etwa über das Sehen, sowie Signale über die Stellung des Körpers im Raum. Diese sensorischen Rückmeldungen werden im Gehirn in ein ganzheitliches Selbsterleben zusammengesetzt und sind die Grundlage für die Konstruktion unseres Selbst. Signale aus unserem Körper sind somit auch wichtig bei der Regulation unseres Verhaltens, zu dem auch das Essverhalten zählt. So haben beispielsweise Menschen mit Essstörungen, z.B. einer Anorexia nervosa oder einer Bulimie, eine zumeist massive Körperbildstörung und ein stark verändertes Selbsterleben. Essstörungen sind schwerste klinische Erkrankungen, die fachlich fundierter psychotherapeutischer Intervention bedürfen. Auch bei Menschen mit Gewichtsproblemen und Adipositas finden sich, wie eigene Studien gezeigt haben, Veränderungen des Selbsterlebens und der interozeptiven Körperwahrnehmung.

Beim Essen ist die Wahrnehmung von körperlichen Rückmeldungen also besonders wichtig. Was passiert denn in unserem Körper, wenn wir hungrig oder satt sind?

Hunger- und Sättigungsgefühle unterliegen komplexen, aufeinander abgestimmten biochemischen und autonom-nervösen Prozessen im Körper. Es handelt sich hierbei um ein adaptives und evolutionär bedeutsames, überlebenswichtiges Regulationssystem. Es gibt kurzfristige und langfristige Regulationsmechanismen. Die Verarbeitung von Rückmeldungen aus der Körperperipherie findet im Gehirn statt. Spezifische Rezeptoren im Magen-Darm-Trakt messen beispielsweise auch den mechanischen Füllungszustand und teilen mithilfe von Hormonen mit: Der Magen und der obere Verdauungstrakt sind leer oder voll. Diese Signale gelangen zum Hypothalamus im Gehirn, der für die meisten automatisch ablaufenden, lebenswichtigen Regulationsprozesse im Körper zuständig ist. Er steuert unter anderem sowohl das Hunger- als auch das Sättigungszentrum. Benötigt der Körper Nahrung, werden Hungerhormone ausgeschüttet. Sättigungshormone wiederum signalisieren dem Gehirn, dass man satt ist. Zudem spielt vor allem der insuläre Cortex im Gehirn (Insula) eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung von interozeptiven Rückmeldungen, so auch von Hunger- und Sättigung. Dort findet auch das Bewusstwerden von interozeptiven Rückmeldungen aus dem Körper statt, sowie die Integration dieser Sensationen mit höheren emotionalen und kognitiven Funktionen. Die Insula ist verbunden mit weiteren Gehirnregionen des interozeptiven neuralen Netzwerks. In Zusammenspiel mit frontalen Gehirnregionen ist es damit auch möglich, dass Menschen bewusst auch nicht sofort essen müssen, wenn Hunger empfunden wird, weil es zum Beispiel gerade nicht möglich ist zu essen, da man berufliche Termine hat. Genauso sorgt dieses Netzwerk im Gehirn, in Verbindung mit den Hormonen und nervösen Feedbacks dafür, dass wir aufhören zu essen, wenn wir satt sind.

Was geschieht, wenn wir uns falsch ernähren?

Wenn man über einen längeren Zeitraum zu viel, zu wenig oder zu einseitig isst, z.B. zu viel Süßes oder Fettes, geraten diese Regulationssysteme durcheinander. Dann stimmt sozusagen die Chemie nicht mehr und es wird unser Empfinden von Hunger und Sättigung gestört. Zwei wichtige Botenstoffe spielen hierbei, neben einer Reihe anderer Neurotransmitter und Hormone, eine heute bekannte Rolle: Ghrelin und Leptin. Ghrelin wird hauptsächlich vom Magen produziert und stimuliert die Nahrungsaufnahme, indem seine Menge im Blut im Gehirn registriert wird. Es verführt somit zum Essen. Der Ghrelinspiegel ist vor der Nahrungsaufnahme hoch und sinkt nach dem Essen normalweise ab. Ein sinkender Ghrelinspiegel sagt dem Gehirn also, dass gegessen wurde und die Nahrung im Magen angekommen ist. Ein Sättigungsgefühl setzt ein. Ghrelin verlangsamt unter anderem die Fettverbrennung und interagiert auch mit Neurotransmittern, die für unsere Stimmung und für das Erleben von Belohnung verantwortlich sind. Das Hormon Leptin wird vom Fettgewebe gebildet. So korreliert der Plasmaspiegel von Leptin eng mit der Fettmasse des Körpers. Leptin steht auch in Wechselwirkung mit der Zuckerregulation des Körpers, also mit dem Hormon Insulin. Leptin hat prinzipiell eine appetitzügelnde Wirkung und interagiert mit Ghrelin bei der negativen Feedback-Regulation des Essverhaltens und des Körpergewichts.

Adipöse Menschen und Menschen mit Gewichtsproblemen zeigen eine veränderte Balance im Zusammenspiel dieser und anderer Hormone, was das Essverhalten und die Gewichtsregulation beeinflusst. So konnte gezeigt werden, dass die Verabreichung einer spezifischen Dosis von Ghrelin nur bei adipösen Personen zu einem Anstieg der Nahrungsaufnahme und auch der bewerteten Schmackhaftigkeit der Nahrung führt. Dies ist jedoch nicht bei Normalgewichtigen der Fall. Das Leptin betreffend zeigen Studienergebnisse, dass bei übergewichtigen Menschen hohe Leptinspiegel im Blut nachweisbar sind. Hierbei wird eine Leptinresistenz als ursächlich diskutiert, das heißt, die Wirkung des Hormons an den Rezeptoren bleibt aus, sodass dem Gehirn kein Sättigungsgefühl vermittelt wird. Vielmehr bleibt das Hungergefühl bestehen und die Nahrungsaufnahme wird eher fortgesetzt. Dies zeigt, dass bei Übergewicht und Adipositas die basale Hunger- und Sättigungsregulation anhaltend gestört ist und nicht wie bei Normalgewichtigen funktioniert. Diese Prozesse interagieren eng mit der bewussten interozeptiven Wahrnehmung und der Verhaltensregulation beim Essen. Wenn jemand beispielsweise kontinuierlich mehr isst als der Körper benötigt, ist davon auszugehen, dass auch die interozeptiven Wahrnehmungsprozesse verändert werden. Das heißt, man spürt nicht mehr genau, ob man satt ist oder hungrig. Dies trifft auch für die Auswirkungen von Diäten oder Fasten zu. Wir wissen derzeit noch nicht, was zuerst kommt: eine gestörte Interozeption oder ein gestörtes Essverhalten und Gewicht. Es ist zu vermuten, , dass sich diese Prozesse wechselseitig im Zeitverlauf bedingen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Fähigkeit zur Selbstregulation. Wenn wir etwa spüren, dass wir satt sind, müssen wir auch unser Verhalten entsprechend regulieren und aufhören, zu essen. Dies kann besonders schwerfallen, wenn es nicht nur um Nahrungsaufnahme zum Stillen des Hungers geht, sondern um belohnende Aspekte des Essens. Ein gutes Essen zu genießen ist das eine, aber wir leben hier in einer hochindustrialisierten Welt, in der vor allem hochraffinierte Nahrungsmittel mit hoher Energiedichte im Überfluss hergestellt werden, die zudem mit einer Vielzahl an Geschmacksverstärkern versehen werden. Diese Nahrungsmittel selbst verändern die benannten fein abgestimmten Regulationsmechanismen und auch das Erleben von Belohnung durch Essen. Hier geht es nicht mehr nur um Nahrungsaufnahme zum Überleben, und auch nicht mehr um das Genießen, sondern um eine gezielte Verführung zum Essen und die Beeinflussung des Konsumverhaltens. Das kann gesundes und adaptives Essverhalten natürlich anhaltend stören und langanhaltende Gesundheitsprobleme bewirken. Dies ist erkennbar an dem immer größer werdenden Anteil von Erwachsenen und vor allem Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht und Adipositas in der westlichen Welt.

Was können Menschen tun, um ihre Körpersignale besser wahrzunehmen und das Essverhalten besser nach den Bedürfnissen des Körpers auszurichten?

Wenn es um das Essen geht, ist eines sehr klar: Auf keinen Fall sind dauerhafte einseitige Diäten zu empfehlen. Eigene Arbeiten haben gezeigt, dass bei gesunden und normalgewichtigen Menschen bereits kurzfristiges Fasten die interozeptive Wahrnehmung verändert. Dagegen ist es ratsam, wieder deutlicher auf die eigenen Körpersignale von Hunger und Sättigung achten zu lernen und das Essverhalten davon leiten zu lassen. Wenn ein gesunder und normalgewichtiger Mensch, der bis dato keine Probleme hatte, interozeptive Signale gut zu spüren und zu interpretieren, nach den Feiertagen und der Weihnachtszeit einmal Gewicht zugelegt hat, weil er zu viel gegessen hat, dann ist das nicht allzu tragisch. Es ist zu erwarten, dass sich sein Essverhalten und Gewicht relativ leicht wieder auf das bislang ungestörte Essverhalten und damit auch das gewohnte Gewicht einpendeln werden. Diese Menschen haben üblicherweise keine ausgeprägten Probleme mit der Wahrnehmung ihrer körperlichen Rückmeldungen und ebenso nicht mit der Selbstregulation ihres Verhaltens, das von interozeptiven Prozessen, wie ich in meiner Forschungsarbeit zeigen konnte, geleitet wird.

Das gilt primär für Menschen, die keine klinisch bedeutsamen Essstörungen haben. Letztere benötigen wie erwähnt unbedingt eine fachmännische psychotherapeutische Behandlung. Und es gilt auch nicht für Menschen mit vorab existenten Gewichtsproblemen und Adipositas. Diese Menschen haben bereits Probleme bei der adäquaten Wahrnehmung ihrer interozeptiven Signale, wie wir zeigen konnten.

Grundsätzlich ist es für jeden Menschen empfehlenswert, die Fastenzeit zu nutzen, um achtsamer mit sich umzugehen und ganz speziell den kontinuierlich stattfindenden Rückmeldungen aus dem Körper mehr Gehör zu schenken. Spezifische Signale des Körpers besser wahrzunehmen und zu interpretieren, kann man erlernen und gezielt üben. Meine laufenden Studien untersuchen eine Intervention bei Menschen mit Übergewicht und Adipositas und es deutet sich an, dass dies den Betroffenen dabei helfen kann, im Essverhalten wieder eine Balance zu finden. Dies ist ein Schwerpunkt meiner aktuellen Forschung.

Prof. Dr.phil. rer.nat.habil. Beate M. Herbert forscht zur Perzeption und Verarbeitung von internen körperlichen Signalen (Interozeption).

Über den Autor

Melanie Hahn
Melanie Hahn ist Teil der adhibeo-Redaktion und arbeitet als Pressesprecherin für die Fachbereiche Wirtschaft & Medien und onlineplus der Hochschule Fresenius.