Junge Frau mit Brille und Dutt sitzt neben einem kleinen Jungen. Beide gucken und zeigen auf ein offenes Heft.

Dysgrammatismus: Was tun, wenn ein Kind nicht richtig spricht?

Sprachentwicklungsstörungen, wie der Dysgrammatismus, zählen zu den häufigsten Entwicklungsstörungen des Kindesalters. Sie können ohne eine geeignete Therapie nicht nur zu sozialen und emotionalen Problemen führen, sondern mindern auch spätere Chancen in Beruf und Ausbildung. Deshalb engagiert sich Maike Gumpert, Studiengangskoordinatorin für Logopädie (B.Sc.) an der Hochschule Fresenius, für mehr Diagnostikmöglichkeiten und Therapieoptionen. Nun sprach sie über die Erscheinungsformen und Ursachen des Dysgrammatismus – und darüber, wie man betroffenen Kindern gezielt helfen kann.

Ein Kind mit Dysgrammatismus spricht im Alter von zwei Jahren weniger Wörter als Gleichaltrige. Es fällt ihm schwer, neue Wörter zu lernen. Im Alter von drei bis vier Jahren hat es Schwierigkeiten, korrekte Sätze zu bilden. Es sagt: „Ich ein Bild malen“ statt „Ich male ein Bild“. Mit fünf Jahren sagt es: „Der Vater gibt die Mutter der Ball“ statt „Der Vater gibt der Mutter den Ball“. Aufgrund seiner Sprachentwicklungsstörung hat es Probleme, altersgemäße grammatische, das heißt syntaktische und morphologische, Strukturen zu bilden.1 Es ist ihm zum Beispiel nicht möglich, zu erkennen, an welcher Stelle im Satz ein Verb stehen sollte, auf welche Weise man Wörter an grammatische Fälle, wie den Dativ oder den Akkusativ, anpassen muss oder auch, wie Artikel vom Geschlecht eines Nomens abhängen.2

„Internationalen Studien zufolge ist fast jedes zehnte Kind eines Jahrgangs von einer Sprachentwicklungsstörung, wie dem Dysgrammatismus, betroffen“, erläutert Maike Gumpert. Die Studiengangskoordinatorin für Logopädie (B.Sc.) an der Hochschule Fresenius in Idstein beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit Sprachentwicklungsstörungen im grammatischen Bereich und hat zudem zahlreiche Erfahrungen in der Praxis gesammelt.

Möchte man eine Sprachentwicklungsstörung verstehen und behandeln, ist es wichtig, auch ihre Ursachen zu kennen, betont sie: „Wenn Kinder alle Fähigkeiten besitzen, die sie für die Entwicklung ihrer Sprache brauchen, das Sprachangebot aus ihrem Umfeld aber nicht ausreichend ist, spricht man von umgebungsbedingten Sprachauffälligkeiten. Dagegen spielt bei Kindern mit einer Sprachentwicklungsstörung unter anderem die genetische Disposition eine große Rolle. Diesen Kindern fehlen die Fähigkeiten, das Sprachangebot so zu analysieren, dass sie den nächsten Entwicklungsschritt machen können.“

WENN DIE SPRACHE ZU EINEM PROBLEM WIRD

Die Störung kann bei jedem betroffenen Kind einen anderen Verlauf mit unterschiedlichen Fehlarten und Ausprägungen nehmen. Daher ist es für Eltern, aber auch Erzieher und Lehrer nicht einfach, sie zu erkennen. Wird sie jedoch nicht mit einer geeigneten Therapie behandelt, kann sie die Entwicklung eines Kindes stark beeinflussen:3 Das Kind kann schon in der Kindertagesstätte aufgrund seiner Sprache von Gleichaltrigen zurückgewiesen werden. In der Schule kann es Schwierigkeiten haben, seine Gedanken auszudrücken, die Lehrer zu verstehen und dem Schulstoff zu folgen. Es kann Verhaltensauffälligkeiten und Lernschwierigkeiten entwickeln.

„Kinder mit Dysgrammatismus sind theoretisch kognitiv in der Lage, alle schulischen Anforderungen zu erfüllen. Aber ihre sprachlichen Fähigkeiten stehen ihnen im Weg“, erklärt Maike Gumpert. Dies führe dazu, dass sich die Kinder im weiteren Verlauf ihres Lebens anders entwickeln: „Studien zeigen, dass Erwachsene mit einer fortbestehenden Sprachentwicklungsstörung schlechtere Schul- und Ausbildungsabschlüsse erreichen und beruflich weniger erfolgreich sind. Auch sozioemotionale und psychiatrische Auffälligkeiten als Folge der sprachlichen Einschränkungen werden beschrieben.“

MIT DIAGNOSTIK UND THERAPIE NEUE MÖGLICHKEITEN SCHAFFEN

Doch wie kann man diesen Kindern frühzeitig helfen? Was kann man tun, wenn das soziale Umfeld keinen Verdacht hegt? Mit einem kostenlosen Sprachscreening bietet die Hochschule Fresenius in Idstein Kindertagesstätten aus der Region eine Antwort auf diese Fragen an. Einmal jährlich untersucht Maike Gumpert gemeinsam mit Studierenden der Logopädie (B.Sc.) über 300 Kinder und prüft mithilfe speziell normierter Tests, ob bei ihnen Risikofaktoren oder bereits Auffälligkeiten vorliegen, die auf eine Sprachentwicklungsstörung hindeuten.

Bei einem Verdacht sollten die Eltern den Weg zu einem Kinderarzt suchen, damit dieser eine Verordnung für eine logopädische Diagnostik ausstellen kann. Anschließend klärt ein Logopäde oder Sprachtherapeut, ob eine Sprachentwicklungsstörung vorliegt, und findet heraus, an welchem Punkt der Sprachentwicklung die Therapie ansetzen muss. „In der Diagnostik schauen wir unter anderem: Wo wäre der nächste sprachliche Entwicklungsschritt des Kindes? Was schränkt seine Verständlichkeit ein? Welcher sprachliche Bereich blockiert weitere Entwicklungsschritte?“, so Maike Gumpert.

Mit ihrer Reihe „Grammatische Fähigkeiten einordnen – Therapieziele ableiten“, kurz GreTa, bietet sie Therapeuten eine wichtige Basis für eine zielführende und zugleich kindgerechte Behandlung: Ein Praxisbuch schafft einen Überblick darüber, an welcher Stelle der Sprachentwicklung sich ein Kind in einem bestimmten Alter befinden sollte, und gibt die notwendigen Informationen zum Beginn und Ablauf der Therapie.4 Spezielle Therapiemappen, wie die kürzlich veröffentlichten Materialien zum Thema Dativ,5 führen mit Illustrationen, Geschichten und therapeutischen Spielen Schritt für Schritt durch die Behandlung.

Während dieser erhält das Kind genau das Sprachangebot, das es für den nächsten Entwicklungsschritt benötigt. Es lernt spielerisch Formulierungen und grammatische Strukturen und wird mit Übungen konfrontiert, die es ihm ermöglichen, das Gelernte weiter auszubauen. „Die Therapie ermöglicht den Kindern, Verzögerungen in der Sprachentwicklung aufzuholen und die Sprachentwicklungsstörung zu überwinden. Deshalb sollten Eltern, wenn sie bemerken, dass ihr Kind Schwierigkeiten mit dem Sprechen hat, den Weg zu einem Kinderarzt und in eine logopädische Praxis suchen“, resümiert Maike Gumpert. „Denn bei einer Sprachentwicklungsstörung hilft nur eine logopädische Therapie.“


Literatur

1.Thelen, K.: Störungen der Grammatik zwischen 3;0 und 5;0 Jahren. In: Fox-Boyer, A. (Hg.): Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen: Kindergartenphase. München: Elsevier, Urban & Fischer, 2014, S. 55-72.

2. Kannengieser, S.: Sprachentwicklungsstörungen: Grundlagen, Diagnostik und Therapie. München: Elsevier, Urban & Fischer, 2015 (4. Aufl.).

3. Dannenbauer, F.M.: Spezifische Sprachentwicklungsstörung im Jugendalter. In: Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V. (dgs): Die Sprachheilarbeit 47, 2001, S. 10-17.

4. Güntheroth M., Gumpert M.: Praxisbuch GreTa: Grammatische Fähigkeiten einordnen – Therapieziele ableiten. Braunschweig: Westermann Lernspielverlag, 2017.

5. Güntheroth M., Gumpert M.: PB Logopädische Testungen: Dativ: Therapie – Dysgrammatismus: Kopiervorlagen. Braunschweig: Westermann Lernspielverlag, 2019.