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Digitales Produktmanagement: „Oberstes Ziel moderner digitaler Produktentwicklung ist es, ein Produkt bereitzustellen, das am Markt auch wirklich angenommen wird“

BongkarnThanyakij/iStock

von Sascha Hoffmann, Melanie Hahn , am 16.02.2021

Die Coronapandemie hat die Digitalisierung weiter vorangetrieben. Ohne digitale Produkte funktioniert mittlerweile wenig: E-Mails, Online-Shopping, Messenger, Streaming von Musik und Filmen, bargeldloses Bezahlen, Car-Sharing oder Online-Banking sind prominente Beispiele. Obwohl wir alle die Ergebnisse der Arbeit von digitalen Produktmanagern täglich nutzen, ist für Außenstehende schwer nachzuvollziehen, wie ein digitales Produkt entsteht.

Im adhibeo-Interview beantwortet Prof. Dr. Sascha Hoffmann Fragen rund um das Thema Digitales Produktmanagement. Er ist Professor für Betriebswirtschaftslehre und Online-Management an der Hochschule Fresenius in Hamburg und lehrt dort Fächer wie Digital Media, E-Commerce, Online-Marketing bzw. digitales Produktmanagement. Zuvor war er unter anderem für XING und blau Mobilfunk in leitender Funktion im Business Development und Produktmanagement tätig. Kürzlich bei Springer Gabler erschienen ist sein Herausgeberband „Digitales Produktmanagement“.

Herr Hoffmann, digitale Produkte werden ja schon länger genutzt. Inwiefern hat sich die Branche in den letzten Jahren verändert?

Digitale Produkte, also Websites, Apps bzw. allgemein Software, gibt es natürlich schon recht lange. Deren Bedeutung nimmt jedoch im Rahmen der Digitalisierung von Unternehmen beziehungsweise der digitalen Transformation ganzer Branchen kontinuierlich zu. Anfänglich wurde die Entwicklung digitaler Produkte mit Hilfe klassischer Projektmanagement-Methoden organisiert. Die Wasserfallmethode ist dabei das prominenteste Beispiel. Danach werden die einzelnen Entwicklungsphasen eines Softwareprodukts von der Anforderungsanalyse über die Planungs- und Konzeptionsphase bis hin zur eigentlichen Programmierung und dem finalen Testen nacheinander durchlaufen. Diese Vorgehensweise ist beispielsweise in der Baubranche nach wie vor üblich. Und wir alle kennen prominente Beispiele, wie den Flughafen Berlin Brandenburg, die Elbphilharmonie oder auch das Kernkraftwerk Kalkar, bei denen genau dieses Vorgehen zu massiven Zeitverzögerungen und Kostenexplosionen geführt hat. Zentrale Gründe hierfür sind, dass die Marktanforderungen zu Beginn der Projektphase naturgemäß noch nicht im Detail klar waren beziehungsweise sich die Anforderungen während der Projektlaufzeit gewandelt haben.

Auch in der Softwarebranche waren diese Probleme weit verbreitet und der Frust bei Auftraggebern wie auch den Softwareentwicklern entsprechend groß. Glücklicherweise lässt sich die digitale Produktentwicklung jedoch auch anders, nämlich agil, organisieren.

Die agile Entwicklung digitaler Produkte ist in den letzten 20 Jahren immer populärer geworden und ist inzwischen eigentlich das Standardvorgehen. Es gibt unterschiedliche agile Methoden, wie zum Beispiel Scrum oder Kanban. Ihnen allen gemein ist, dass die Entwicklung inkrementell und iterativ erfolgt. Das bedeutet, dass entlang des gesamten Entwicklungsverlaufs das Produkt schrittweise entwickelt wird und regelmäßig das Feedback der Stakeholder, insbesondere der späteren Nutzer, eingeholt wird, um sicherzustellen, dass die verfolgte Lösung auch wirklich den jeweils aktuellen Anforderungen und Bedürfnissen des Marktes entspricht. Das Ergebnis jeder Feedbackschleife beeinflusst dabei unmittelbar die weitere Produktentwicklung.

Könnten Sie anhand eines konkreten Beispiels grob den Entwicklungsprozess eines digitalen Produkts beschreiben?

Anders als bei der klassischen Wasserfallmethode gibt es nicht mehr DEN einen Entwicklungsprozess. Oberstes Ziel moderner digitaler Produktentwicklung ist es vielmehr stets, ein funktionierendes Produkt bereitzustellen, das am Markt auch wirklich angenommen wird. Um dies zu erreichen, sollten zunächst immer die Bedürfnisse der Zielgruppe intensiv im Rahmen einer sogenannten Product Discovery ermittelt werden. Das mag trivial klingen, aber man glaubt gar nicht, wie oft das auch heute noch nicht wirklich in der Praxis gemacht wird, was sich sehr häufig später durch teure Anforderungsänderungen oder einem Marktflop rächt.

Eine agile Produktentwicklung führt aber nicht nur zu Beginn eine initiale „Product Discovery“ durch, sondern setzt entlang der gesamten Entwicklungszeit, der „Product Delivery“, auf eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Kunden und die aufrichtige Bereitschaft, jederzeit offen für Anforderungsänderungen im Entwicklungsprozess zu sein. Dies bedeutet natürlich nicht, dass bei einer agilen Entwicklung ohne Plan und Strukturen vorgegangen wird. Sie sind jedoch nicht Selbstzweck, sondern kommen nur zum Einsatz, sofern sie dazu beitragen, die Produktentwicklung zu verbessern.

Für die Entwicklung digitaler Produkte bedarf es folglich neuer Berufsbilder wie beispielsweise den digitalen Produktmanager. Welche Funktion übt er aus?

Die agile Entwicklung digitaler Produkte verändert nicht nur die Arbeitsweise der Programmierer. Sie impliziert auch eine neue Art des Produktmanagements. Das aktive Managen von Produkten ist an sich nichts Neues: Bereits seit Jahrzehnten ist es fester Bestandteil in der betriebswirtschaftlichen Literatur, zum Beispiel in Form der Produktpolitik im Marketing. Und auch der Beruf des Produktmanagers existiert schon lange. Im digitalen Kontext unterscheidet sich das Aufgabenspektrum von Produktmanagern jedoch zum Teil deutlich von ihrer primär kaufmännisch geprägten, „klassischen“ Ausgestaltung. So reicht ihr Verantwortungsbereich von der initialen Identifikation von Neuproduktideen und der Validierung ihres nutzer- sowie unternehmensseitigen Potentials, über die Spezifikation der Anforderungen und die Steuerung ihrer Umsetzung bis hin zu einer nachhaltig erfolgreichen Weiterentwicklung der digitalen Produkte. Im Produktmanagement geht es also neben der wirtschaftlichen Optimierung vor allem auch um die technologische Umsetzbarkeit von digitalen Produkten, die aus Nutzersicht wirklich gewünscht sind – und für die eine Zahlungsbereitschaft existiert.

Ein Produktmanager (m/w/d) ist damit ganzheitlich für die inhaltliche Ausgestaltung und Weiterentwicklung „seines“ Produktes verantwortlich. Besonders deutlich wird dies im agilen Scrum-Framework, in dem die Rolle als „Product Owner“ explizit vorgesehen ist – eine Bezeichnung, die zum Teil auch in Unternehmen verwendet wird, die ihre digitale Produktentwicklung mit anderen agilen Methoden organisieren.

Über welche Kompetenzen muss er verfügen?

Produktmanager haben eine sehr verantwortungsvolle und vielseitige Position im Unternehmen, für die sie über ein breites Methodenwissen und ein ausgeprägtes zwischenmenschliches Fingerspitzengefühl verfügen müssen. Produktmanager werden am Markt händeringend gesucht. Aufgrund einer weitgehend fehlenden institutionalisierten Ausbildung und den gleichzeitig sehr vielfältigen Anforderungen übersteigt die Nachfrage das vorhandene Angebot an qualifizierten Produktmanagern um ein Vielfaches. Unternehmen versuchen, diese Bedarfslücke unter anderem dadurch zu schließen, dass sie kommunikative Softwareentwickler beziehungsweise IT-affine Betriebswirte aus ihren Reihen zu Produktmanagern weiterbilden.

Umso mehr freut es mich, dass unter anderem aufgrund meiner Bestrebungen hin an der Hochschule Fresenius seit kurzem in mehren Studiengängen, wie dem Master of Digital Management, das Fach „Digitales Produktmanagement“ fester Bestandteil des Curriculums ist. Meine Erfahrungen am Hamburger Standort zeigen, dass die Veranstaltung bei den Studierenden sehr gut ankommt und es gerade bei den berufsbegleitend Studierenden dabei oftmals zu einem unmittelbaren Wissenstransfer kommt.

Sie haben in dem Bereich auch geforscht und dazu kürzlich ein Buch veröffentlicht. Was sind die zentralen Ergebnisse?

In dem Buch „Digitales Produktmanagement“ haben 13 Experten aus der Praxis und ich in unseren Beiträgen verschiedene Facetten der digitalen Produktentwicklung näher beleuchtet. Das Buch spiegelt damit die große Vielfältigkeit und Dynamik in der digitalen Produktentwicklung wider. Damit meine ich zum einen die zahlreichen Methoden und einzelnen Arbeitsinstrumente, die im Produktmanagement zur Anwendung kommen. Zum anderen entstehen in der digitalen Produktentwicklung aber auch ganz neue Arbeitsweisen und Methoden der Zusammenarbeit, die vielfach eng mit dem populären New Work-Ansatz verbunden sind.

Gibt es aus Ihrer Sicht wichtige Forschungsfragen im Bereich des digitalen Produktmanagements?

Auf jeden Fall. Das digitale Produktmanagement ist von einer sehr hohen Dynamik geprägt und wird laufend weiter professionalisiert. Ein Großteil der branchenweit eingesetzten Methoden wurde von Praxisexperten in den Unternehmen entwickelt und auf Branchenevents, wie den Mind the Product-Konferenzen, vorgestellt. Einige Produktmanager, wie Marty Cagan, Jeff Patton oder Martin Eriksson, haben es dabei als Keynote Speaker und Buchautoren zu einer großen Popularität in der Branche gebracht. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem digitalen Produktmanagement hat es dagegen erst in wenigen Ansätzen gegeben. Da gibt es für die kommenden Jahre noch genügend Forschungsbedarf, auf den ich mich sehr freue.

Weiterführende Informationen:

Prof. Dr. Sascha Hoffmann lehrt und forscht zum Thema Digitales Produktmanagement an der Hochschule Fresenius in Hamburg.

Über den Autor

Sascha Hoffmann, Melanie Hahn
Melanie Hahn ist Teil der adhibeo-Redaktion und arbeitet als Pressesprecherin für die Fachbereiche Wirtschaft & Medien und onlineplus der Hochschule Fresenius.