Turnerin

Die Weltgymnaestrada: Eine Breitensportveranstaltung, die uns den Spiegel vorhält

Individualität und Selbstentfaltung sind in unserer Gesellschaft ein hohes Gut. Dieser Anspruch hat jedoch auch eine Kehrseite, die sich u. a. in Leistungsdruck und Egozentrismus ausdrückt. Räume, die sich dem entziehen, gibt es dennoch – beispielsweise die Weltgymnaestrada, sagt Prof. Dr. Angela Wichmann. Die Studiendekanin und Dozentin an der Hochschule Fresenius in München begleitet das internationale Turnsport-Event bereits seit einigen Jahren aus wissenschaftlicher Perspektive, auch in diesem Sommer wird sie wieder dabei sein. Im Gastbeitrag beschreibt sie, welche drei Besonderheiten der Veranstaltung – die einen Gegenentwurf zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen darzustellen scheinen – sie dabei unter die Lupe nehmen wird.

Im Juli dieses Jahres ist es wieder soweit. Tausende Turnerinnen und Turner aus der ganzen Welt werden zusammenkommen, um die verschiedenen Facetten des Turnens zu zelebrieren – in einem Fest der Begegnung: der Weltgymnaestrada. Wie schon 2007 ist das österreichische Dornbirn in Vorarlberg der Austragungsort dieses alle vier Jahre stattfindenden internationalen Turn-Events mit über 20.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus mehr als 50 Nationen. Bei der Veranstaltung des Internationalen Turnverbands geht es nicht um Turnen, wie man es aus dem Schulsport kennt. Im Mittelpunkt stehen Gruppenvorführungen, die Turnen, Akrobatik, Tanz und Bewegungskünste mit großer Kreativität in Choreografien verwandeln und so die Zuschauer verzaubern – Zuschauer, die zum Teil auch von den Teilnehmern selbst gestellt werden. Gegenseitiges Zuschauen bedeutet, sich inspirieren zu lassen, voneinander zu lernen und gegenseitig Wertschätzung auszudrücken. Nationalität, Geschlecht und Alter spielen hierbei keine Rolle, genauso wenig wie das Leistungslevel. Die Gymnaestrada bietet jedermann und jederfrau die Möglichkeit zum Mitmachen, frei von Wettkampfdruck, aber dennoch verbunden mit hohem Engagement, ganz egal um welches Leistungsniveau es sich handelt.

Turnen ist hier kein verstaubtes Phänomen, sondern spiegelt auf vielfachen Ebenen den Zeitgeist wider und denkt ihn sogar weiter. Während die Welt derzeit oftmals immer komplizierter wirkt, Konflikte zunehmen und sich der Ton gesellschaftlicher Debatten verschärft, zelebrieren Tausende verschiedener Menschen ein Wir-Gefühl, das man nur noch an wenigen Orten findet – die Weltgymnaestrada ist einer dieser Orte. Begegnungen in der Welt des Sports wie diese stehen hierbei immer in Verbindung mit der gesellschaftlichen Realität, in der sie stattfinden. Genau an dieser Stelle bietet uns die Weltgymnaestrada einen erkenntnisreichen Blick auf uns und die Welt, in der wir leben. So scheint sie unserer Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Einer Gesellschaft, die der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem viel beachteten Werk „Die Gesellschaft der Singularitäten“ (2017) vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen analysiert. Nach Reckwitz feiert unsere spätmoderne Gesellschaft das Besondere, das Einzigartige, was jedoch in einer Reihe aktueller gesellschaftlicher Probleme seinen Niederschlag findet. Hierbei lässt sich nicht nur der oftmals hohe Selbstentfaltungsanspruch in Verbindung mit möglichen Überforderungsgefühlen nennen, sondern insbesondere auch die zunehmenden sozialen und kulturellen Polarisierungen sowie der „Aufstieg spätmoderner Nationalismen, Fundamentalismen und Populismen“ (Reckwitz 2017, S. 22).

Schaut man sich die Weltgymnaestrada genauer an, scheint sie gerade in Bezug auf diese drei Aspekte wertvolle Impulse für mögliche Gegenentwürfe zu geben. Ist sie doch eine Großveranstaltung,

Es lohnt sich, diese drei Aspekte etwas genauer zu betrachten.

LEISTUNGSBEREITSCHAFT ALS KOLLABORATION OHNE WETTKAMPF

Im Mittelpunkt der Weltgymnaestrada stehen turnerische Gruppenvorführungen, auf die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mehrere Monate lang intensiv hin üben. Dabei steht nicht die Spitzenleistung im Vordergrund; was zählt, sind Engagement und Hingabe. Sauber und synchron ausgeführte Bewegungen, die von einer Gruppe erbracht werden, üben eine faszinierende Wirkung aus. Es geht hier gerade nicht darum, als Individuum aus der Masse hervorzustechen und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es geht darum, sich in die Gruppe einzufügen. Ein wertvoller Teil eines Ganzen zu sein. Ohne Wettkampf, sondern verbunden mit der Freude, dem Zuschauer ein besonderes Bild zu vermitteln.

SPIELERISCHER UMGANG MIT NATIONALER IDENTITÄT

Die Weltgymnaestrada ist ein Ort der Begegnung von Turnerinnen und Turnern aus der ganzen Welt, die bei der Eröffnungsfeier wie bei Olympischen Spielen in ihrer Delegationskleidung ins Stadion einmarschieren – ein besonderes Erlebnis für alle Beteiligten. Kaum sind Eröffnung und erste offizielle Termine vorbei, setzt ein einmaliges Phänomen ein – das Ritual des Tauschs der Delegationskleidung, vergleichbar mit, aber wesentlich umfassender als, der aus dem Fußball bekannte Trikottausch. So tauschen beispielweise Brasilianische oder Schweizer Turnerinnen und Turner ihre T-Shirts, dazu ergattert möglicherweise ein französischer Turner im Laufe der Woche einen Rucksack eines Portugiesen und eine Hose eines Turners aus Südafrika, der nun den weiteren Verlauf der Woche in der Hose des Portugiesen verbringt. Der Austragungsort verwandelt sich in ein buntes Meer an Nationalitäten, die verschwimmen und sich vermischen. Auch wenn diese Begegnungen vielleicht an der ein oder anderen Stelle rein flüchtiger Natur sind, verbirgt sich hinter diesem Phänomen ein herzerfrischender, spielerischer Umgang mit der eigenen nationalen Identität, der in unserer heutigen Zeit eine wohltuende Wirkung hat.

EXPERIMENTIEREN MIT INKLUSION UND DIVERSITÄT

Kategorien wie Jung oder Alt, Groß oder Klein spielen bei der Weltgymnaestrada keine Rolle. Die Veranstaltung ermöglicht Begegnungen auf Augenhöhe. Mit hohem Respekt werden die Vorführungen der anderen Turner aufgenommen. Gerade, aber nicht nur, Turnerinnen und Turner mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen werden bejubelt und mit stehenden Ovationen empfangen. Man spricht von „different abilities“ anstelle von „disabilities“. Ein Diskurs voller Respekt und Wertschätzung. Auch wenn hinter der Bühne sicherlich nicht immer alles rund läuft, scheint es hier eine positiv-experimentelle Haltung zu gelebter Inklusion und Diversität zu geben, die an der ein oder anderen Stelle auch die Kraft haben könnte, über die Weltgymnaestrada hinaus in die Gesellschaft hineinzuwirken.

Die Weltgymnaestrada als Ort der Begegnung scheint über die Faszination und die Magie hinaus, die sie für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausübt, mit möglichen Lösungen für unsere gesellschaftlichen Herausforderungen zu experimentieren. Sie scheint mögliche Antworten auf dringende Fragen zu entwickeln, mit denen sich unsere Gesellschaft im 21. Jahrhundert auseinanderzusetzen hat. Sie trägt das Potenzial in sich, ein Weltbild zu fördern, in dem zwischenmenschliche Werte und ein von Respekt und gegenseitiger Wertschätzung getragener Dialog und Umgang miteinander an oberster Stelle stehen. Auch wenn sicherlich auch hier nicht alles Gold ist, was glänzt, stellt sich die provokative Frage, ob die Weltgymnaestrada nicht unserer Zeit vielleicht sogar ein Stück voraus ist? Das gilt es in diesem Sommer in jedem Fall, genauer zu untersuchen.


Literatur

Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp Verlag