Gesundheit, Therapie und Soziales

„In Selbsthilfegruppen erfährt man emotionale und praktische Unterstützung“

von Redaktion, am 11.04.2016

Wenn Sprache, wie Humboldt sagt, der Schlüssel zur Welt ist, dann ist man ohne sie ausgeschlossen. Und genauso fühlen sich Menschen, die an einer erworbenen Sprachstörung (Aphasie) leiden – sie sind oftmals sozial isoliert. Logopädische Behandlungen, aber auch die Beteiligung an Selbsthilfegruppen wirken dem entgegen. In einem gemeinsamen Verbundprojekt wollen die Katholische Hochschule Mainz und die Hochschule Fresenius Idstein Menschen mit Aphasie zur eigenständigen Organisation von Selbsthilfegruppen befähigen. Prof. Dr. Norina Lauer, Studiendekanin des Bachelor-Studiengangs Logopädie an der Hochschule Fresenius Idstein und ihre Kollegin Sabrina Kempf werden das großangelegte Projekt von Seiten der Hochschule Fresenius begleiten. adhibeo hat mit beiden gesprochen.

Frau Prof. Lauer, Frau Kempf, warum setzen Sie im Rahmen Ihres Projekts SHALK bei der Behandlung von Aphasie-Betroffenen auf Selbsthilfegruppen?

In Selbsthilfegruppen können sich Menschen im Hinblick auf ein gesundheitliches oder soziales Problem miteinander austauschen. Bei gesundheitsbezogener Selbsthilfe geht es häufig vor allem um die Bewältigung der psychosozialen Folgen eines Gesundheitsproblems. Selbsthilfegruppen bieten also nicht nur einen Ort, um Informationen auszutauschen, sondern man erfährt dort insbesondere emotionale, aber auch praktische Unterstützung. Viele Gruppen führen neben regelmäßigen Gruppentreffen auch Aktivitäten zur Freizeitgestaltung durch. So entstehen Möglichkeiten zu neuen sozialen Kontakten, die den Betroffenen Gelegenheiten bieten, die soziale Isolation zu überwinden.

Es gibt bereits das Angebot für Selbsthilfegruppen. Warum sollen Betroffene diese nun selbst organisieren?

In den meisten Bereichen der Selbsthilfe ist es so, dass Betroffene auch selbst die Gruppen leiten. Hierzu sind organisatorische und kommunikative Fähigkeiten erforderlich. Im Bereich der Aphasie-Selbsthilfe haben wir ja die Besonderheit, dass die Teilnehmenden von einer Sprachstörung betroffen sind. Daher liegen Einschränkungen in der Kommunikation vor, die es den Betroffenen erschweren, organisatorische Aufgaben zu übernehmen, die häufig mit Kommunikation verbunden sind, wie z.B. Teilnehmende per E-Mail zu Treffen einzuladen oder Gruppentreffen zu moderieren.

Von Aphasie Betroffene trauen sich solche Aufgaben oft nicht mehr zu, selbst wenn sich die sprachlichen Fähigkeiten schon deutlich verbessert haben. Auch wenn wir in den letzten 20 Jahren schon eine Zunahme an Leitungspersonen mit Aphasie beobachten konnten, werden noch viele Aphasie-Selbsthilfegruppen von Therapeuten oder Angehörigen intensiv unterstützt. Daher ist unser Ziel, die Betroffenen dazu zu befähigen, eine Gruppe eigenständig zu führen. Davon erwarten wir uns eine Zunahme der Kompetenz sowie der Lebensqualität dieser Menschen.

Außerdem wissen wir aus Studien, dass Gruppenangehörige, die durch Betroffene geleitet werden, von ihrer Teilnahme mehr profitieren als Angehörige von Gruppen, die nicht von Betroffenen geleitet werden. Insofern erwarten wir auch bei den Gruppenteilnehmenden eine Zunahme der Lebensqualität.

Mit welchen Herausforderungen sind die Betroffenen konkret konfrontiert, wenn sie eine Selbsthilfegruppe eigenständig organisieren wollen?

  • Die häufigste Ursache einer neurologischen Sprachstörung, der sogenannten Aphasie, ist der Schlaganfall. Jährlich erleiden in Deutschland rund 270.000 Menschen einen solchen. Bei 15 Prozent tritt Aphasie als Folgeerscheinung dauerhaft auf. Die Auswirkungen der Sprachstörungen sind enorm: 80 Prozent der Betroffenen kehren nicht zurück in den Beruf, sind in ihrer Selbstständigkeit und damit von Isolation bedroht. Die Lebensqualität nimmt stark ab und 60 Prozent leiden sogar an Depressionen.
  • Neben einer sprachtherapeutischen Betreuung erweisen sich hier besonders Selbsthilfeangebote als sehr förderlich. Im Sinne des therapeutischen Ziels des Empowerment ist die Selbstbestimmung wesentlich für die Lebensqualität der Betroffenen. Das Ziel des Projekts SHALK ist es, Menschen mit Aphasie zu befähigen, selbstständig Selbsthilfegruppen ins Leben zu rufen, aufzubauen und zu organisieren. Die Projektleitung an der Hochschule Fresenius übernimmt Prof. Dr. Norina Lauer, Studiendekanin des Bachelor-Studiengangs Logopädie, Frau Prof. Dr. Sabine Corsten von der Katholischen Hochschule Mainz ist Projektleiterin und Koordinatorin des Projekts. Sabrina Kempf aus dem Fachbereich Gesundheit & Soziales unterstützt in Idstein das Projekt und Claudia Bieber sowie Matthias Lutz-Kopp ergänzen das Mainzer Projektteam. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das dreijährige Forschungsvorhaben innerhalb der Förderrichtlinie Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter (SILQUA-FH) mit ca. 500.000 Euro.[/box]

Die Herausforderungen bei der Leitung von Aphasie-Selbsthilfegruppen sind sehr vielfältig. Es muss viel organisiert werden, wie z.B. der Raum für das Treffen, die Einladungen der Gruppenmitglieder, aber z.B. auch Vorträge von Ärzten oder Therapeuten oder Aktivitäten, die die Gruppe unternehmen möchte. Kontaktanfragen neuer Mitglieder müssen beantwortet werden und idealerweise beteiligen sich Selbsthilfegruppen auch an der Öffentlichkeitsarbeit, um das Thema Aphasie bekannter zu machen.

Daneben stellt die Gestaltung der Treffen eine besondere Herausforderung dar. Die Gruppenleitung moderiert in der Regel die Treffen und muss die unterschiedlichen Bedürfnisse der Gruppenmitglieder immer gut im Blick haben. In Aphasie-Selbsthilfegruppen sind die kommunikativen Fähigkeiten der Teilnehmenden sehr heterogen. Während die einen schon wieder miteinander diskutieren können, fällt es anderen schwer, überhaupt einzelne Wörter zu äußern. Um jedem gerecht zu werden, muss man daher die Treffen gut steuern und miteinander aushandeln, wie alle von den Treffen am besten profitieren.

Kann der organisatorische Aufwand, der doch besonders eng mit Kommunikationsaufgaben verbunden ist, nicht auch überfordern und eher abschreckend wirken?

Genau. Gerade das hält viele Betroffene davon ab, sich in der Leitung einer Aphasie-Selbsthilfegruppe zu engagieren. Sie haben in der Regel schon monate- oder sogar jahrelang darum gekämpft, ihre Sprache wiederzuerlangen. Und sie haben Angst, dem nicht gewachsen zu sein. Aber genau an diesem Punkt setzt unser Projekt an. Über eine spezifisch angepasste Schulung möchten wir Betroffene dazu befähigen, die Aufgabe der Gruppenleitung zu übernehmen. Dabei möchten wir neben der Gruppenleitung eine Co-Leitung installieren, die dieselbe Schulung durchläuft und die Gruppenleitung bei den organisatorischen und kommunikativen Aufgaben unterstützen und entlasten kann.

Wie genau sehen die Schulungen aus?

Die Schulungen werden über einen Zeitraum von drei Tagen stattfinden und viele Pausen beinhalten, damit die Teilnehmenden nicht überfordert werden. Außerdem sollen nicht nur Inhalte vermittelt, sondern vor allem auch praktisch geübt werden. Viele Ideen für die Schulung haben wir bereits aus der Literatur, aber auch aus einem Pilotprojekt heraus generiert. Das genaue Schulungskonzept werden wir allerdings erst im Rahmen der Vorstudie des Projekts entwickeln.

In diesem ersten Teil unseres Projekts werden wir in vier Aphasie-Selbsthilfegruppen gehen, die von Betroffenen, Therapeuten bzw. Angehörigen geleitet werden. Wir schauen uns die Gruppentreffen mit qualitativen Verfahren an und analysieren die Gelingensbedingungen der Treffen. Daraus entwickeln wir dann wiederum das genaue Schulungskonzept. Außerdem ist es noch wichtig zu erwähnen, dass wir nach der Schulung die Umsetzung des Gelernten und Geübten durch die Gruppenleitung und Co-Leitung in den Gruppentreffen während der ersten sechs Monate begleiten. Danach werden die Gruppentreffen eigenständig fortgeführt.

Wie stellen Sie anschließend den Erfolg des Projektes fest?

Im Zentrum unserer Untersuchungen steht die Messung der Lebensqualität bei den neuen Leitungspersonen, aber auch bei den Gruppenteilnehmenden. Dabei nutzen wir ein Testverfahren, bei dem bestimmte Lebenssituationen erfragt werden, die von den Befragten beurteilt werden sollen, z. B. ob sie oft allein sind. Zusätzlich werden dazu Zeichnungen vorgelegt, die es ermöglichen, dass auch Menschen mit schweren Aphasien den Test durchführen können.

Da wir auch für die Angehörigen der Betroffenen ein begleitendes Gruppenangebot umsetzen werden, messen wir auch bei diesen die Lebensqualität. Denn auch die Angehörigen, die ja von der Aphasie mitbetroffen sind, wünschen sich spezifische Angebote des Austauschs mit anderen Angehörigen. Bei den Angehörigen setzen wir einen international anerkannten Test ein, bei dem Fragen zu verschiedenen Aspekten der Lebensqualität beantwortet werden müssen. Außerdem werden wir noch weitere Verfahren einsetzen, wie z.B. ein Aktivitätentagebuch, in dem die Betroffenen kommunikative Alltagssituationen festhalten sollen und über das wir erfahren möchten, ob sich im Verlauf der Studie die kommunikativen Aktivitäten im Alltag der Betroffenen erhöhen.

Wir hoffen, dass wir über das Projekt mehr über die Wirkungsweise von Selbsthilfegruppen, insbesondere im Aphasiebereich, erfahren und vor allem wirkungsvolle Maßnahmen entwickeln können, die zu einer Verbesserung der Lebensqualität der von Aphasie betroffenen Menschen sowie ihrer Angehörigen führen.

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Redaktion
Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

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