Psychologie und Wirtschaftspsychologie

„ADHS wächst sich nicht einfach aus“

von Redaktion, am 20.10.2015

Hyperaktivität, Ablenkbarkeit und Konzentrationsschwierigkeiten. Diese Symptome werden bei ADHS-betroffenen Kindern festgestellt. Was aber passiert, wenn diese Kinder erwachsen werden? Verschwinden die Symptome, verändern sie sich? Herr Prof. Dr. Sören Schmidt, Studiendekan für Angewandte Psychologie an der Hochschule Fresenius Köln, wird diesen Fragen im Rahmen einer Podiums- diskussion am Kölner Standort nachgehen. Im Interview vermittelt er einen ersten Eindruck, was die Zuhörer dort erwarten wird.

Am 21. Oktober werden Sie eine Podiumsdiskussion zum Thema ADHS bei Erwachsenen führen. Sie selbst haben sich in diversen Forschungsarbeiten damit auseinandergesetzt. Wie verändern sich die Symptome beim Übergang zum Erwachsenenalter? Verschwinden manche, kommen neue hinzu?

Wenn man ADHS über die Lebensspanne hinweg beobachtet, dann verschwinden die Symptome nicht einfach, vielmehr verändern sie sich. Die Störung entwickelt sich sozusagen mit dem Alter weiter. Lange Zeit galt die Meinung, dass ADHS sich „auswachsen“ könne. Dabei wurde aber nicht berücksichtigt, dass viele „ehemals“ betroffene Kinder auch später noch psychische Probleme aufweisen.

Mittlerweile ist in Forschung und Praxis bekannt, dass sich ADHS bei Erwachsenen alterspezifisch ausdrückt. Ein Beispiel: Das nach außen hin oft auffälligste Störungsmerkmal, die Hyperaktivität, geht im Jugendalter zurück und weicht eher einer inneren Unruhe alleine. Letzteres Symptom ist von außen betrachtet weniger auffallend, was aber nicht bedeutet, dass die Betroffenen nicht dennoch darunter leiden. Die Kernsymptome Unaufmerksamkeit und auch Impulsivität bleiben bei ADHS im Erwachsenenalter bestehen, sie wirken sich dann auf die typischen Lebensbereiche des Erwachsenenalters aus. Dadurch treten viele zusätzliche Probleme auf, die im Kindesalter noch keine Rolle gespielt haben.

Welche Probleme sind das?

Die betroffenen Erwachsenen haben beispielsweise Schwierigkeiten, sich zu organisieren, den Alltag und den Beruf zu managen oder sich an Termine zu halten. Zudem kommen oft Probleme im Umgang mit Stimmungen und Emotionen hinzu. Viele Betroffene sind sehr sensibel für die Stimmung der Menschen um sie herum, haben aber gleichzeitig Probleme, eigene Emotionen in konkreten Situationen unter Kontrolle zu halten. Außerdem können sie weniger gut mit Stress im Alltag umgehen, man spricht in diesem Zusammenhang von erhöhter Stressintoleranz.

ADHS-betroffene Erwachsene suchen sich oft eher aufgrund dieser Probleme professionelle Hilfe, als beispielsweise wegen der inneren Unruhe. Die Herausforderung für den behandelnden Psychotherapeuten oder Arzt besteht dann darin, herauszufinden, was den Problemen eigentlich zu Grunde liegt beziehungsweise ob auch ADHS in Frage kommen könnte.

Die meisten Erwachsenen sind berufstätig. Zu welchen Problemen kann ADHS im Berufsleben führen? Gibt es Tätigkeiten, die Betroffenen besonders schwer fallen?

Ja. Zum Beispiel, wenn eine Tätigkeit sehr eintönig ist, aber trotzdem eine gewisse Exaktheit erfordert. Das liegt daran, dass gerade bei diesen Arbeiten die Anforderung an unsere Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistung besonders hoch ist.

Schwierig sind auch Arbeitsfelder, in denen die Betroffenen kurzfristig planen und organisieren müssen oder in denen ein striktes Zeitmanagement eine Rolle spielt. Eine Person, die an sich schon Schwierigkeiten mit der Organisation und Einhaltung von Terminen hat, ist hier vergleichsweise stärker belastet und macht gegebenenfalls auch schneller Fehler.

Gibt es andererseits Berufe, in denen Betroffene besonders gut aufgehoben sind?

Das lässt sich so pauschal nicht beantworten, da auch Motivation und Fähigkeit der betroffenen Personen eine große Rolle spielen. Ein ADHS-betroffener Erwachsener, der von seinem Job begeistert ist und diesen mit großer Motivation ausübt – ob auf den ersten Blick eintönig oder planungsintensiv –, wird diesen auch gut ausfüllen und erfolgreich meistern können.

In diesem Zusammenhang ist auf ein spezielles Phänomen hinzuweisen: das der Hyperfokussierung. Es impliziert, dass sich betroffene Erwachsene sehr stark auf eine Tätigkeit konzentrieren. Sie können Defizite infolge der ADHS-Erkrankung kompensieren, indem sie besonders energisch an eine Aufgabe herangehen. Diese Art des Vorgehens kann allerdings zu anderen Problemen führen, da die Betroffenen dann oft zu wenig auf ihre eigenen Ressourcen achten und sich demnach mehr zumuten, als gut für sie ist. Nach außen hin schlagen sie sich aber zunächst oft erfolgreich.

Man kann also nicht wirklich sagen, dass ein bestimmter Beruf geeignet ist, ein anderer dagegen nicht. Ich möchte unterstreichen, dass Menschen mit ADHS oft sehr kreativ und auch in der Lage sind, unkonventionell zu denken. Hier beeinträchtigt die Störung nicht – gegebenenfalls lässt sich sogar davon profitieren.­­­­­

Kann ADHS im Erwachsenenalter auftreten, auch wenn die Person als Kind nicht betroffen war?

Nein, nicht im Sinne der Diagnoseleitlinien. Folgt man den diagnostischen Kriterien, dann muss ADHS auch in der Kindheit schon bestanden haben. Schwierig wird es aber dann, wenn es im Kindesalter weniger Auffälligkeiten gab, da die betroffene Person beispielsweise über Schutzfaktoren verfügte, wie eine stützende Familie, die eine kompensatorische Wirkung auf das Störungsbild ausübten. Wenn diese Schutzfaktoren im Erwachsenenalter nicht mehr wirken und der Leidensdruck wächst, sehen sie sich oft gezwungen, sich jetzt erstmals Hilfe zu suchen.

Bedeutet das, dass die Behandlung von ADHS-Patienten lebenslang andauert?

Nicht zwangsläufig, nein. So eine Störung besteht ja aus mehreren Faktoren. Das Symptombild der ADHS mit der Schwere der Symptome ist eine Komponente, die andere aber ist der Umgang mit der Störung. Letzteres beinhaltet den Grad der Ausprägung, also wie stark sich der Betroffene belastet fühlt, welchen Einfluss die Störung auf sein Umfeld ausübt, wie Halt bietend Arbeit und Familie sind etc. Das spielt mindestens eine genauso große Rolle bei der Störung.

Im günstigen Fall hat eine betroffene Person beispielsweise in der Kindheit die Diagnose erhalten, wurde dementsprechend frühzeitig therapeutisch behandelt und hat dort entsprechende Strategien im Umgang mit der Störung erlernt. Zusätzlich widerfährt ihm bestenfalls Unterstützung aus seinem sozialen Umfeld. Jemand mit diesem Hintergrund hat im Erwachsenenalter vielleicht immer noch einzelne Schwierigkeiten durch ADHS-typische Symptome. In diesem Fall führen diese allerdings gegebenenfalls nicht mehr zu einem klinisch bedeutsamen Leidensdruck. Diese Person kann ihr Leben dann durchaus ganz normal führen, auch ohne sich in Behandlung zu befinden.

Welche Strategien bei der Bewältigung des Alltags legen Sie ADHS-Betroffenen ans Herz und wie muss man diese anpassen, wenn die Betroffenen erwachsen werden?

Die Anforderungen des Alltags variieren je nach Lebensalter und Aufgabe. Kinder und Jugendliche haben ganz andere Entwicklungsaufgaben, durchlaufen ganz andere Phasen als Erwachsene. Um die anfallenden Aufgaben zu bewältigen, erlernen Kinder mit ADHS für gewöhnlich entsprechende Strategien und Techniken. Zum Beispiel bringt man ihnen unter anderem bei, wie man sich fokussieren kann, dabei nicht ablenken lässt bzw. letztendlich nicht auf Ablenkungsreize reagiert. Das sind Dinge, die Kinder klassischerweise in einem schulnahen Setting gut lernen können.

Bei einem Erwachsenen kommen weitere Sachen dazu. Man hat beispielsweise einen Erwachsenen vor sich, der im privaten Alltag große Probleme damit hat, Termine zu organisieren, Rechnungsfristen einzuhalten oder die Post zu verwalten. Mit ihm würde man an Strategien arbeiten, wie diese Aufgaben zu bewältigen sind. Man unterstützt ihn zum Beispiel bei der Einführung eines sinnvollen Ablagesystems und bringt ihm Techniken zur Selbstorganisation bei. Wenn zudem emotionale Probleme dazukommen – das gilt bei Kindern gleichermaßen – dann sollten auch Techniken zur Emotionsregulation gleichermaßen eine Rolle spielen.

Das übergeordnete Ziel bei der Behandlung ist bei allen Betroffenen gleich: Sie sollen ihren Alltag gut begehen und meistern können, zudem sollte der Leidensdruck entsprechend zurückgehen. Dies zu erreichen, kennzeichnet letztlich die Arbeit von Psychotherapeuten und Ärzten mit ihren Patienten – ganz unabhängig davon, wie alt die oder der Betroffene ist.

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Redaktion
Die adhibeo-Redaktion veröffentlicht regelmäßig Artikel zu verschiedensten Themen der Angewandten Wissenschaften, die an der Hochschule Fresenius stattfinden.

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